Winterjournal (German Edition)
kam bei einem Ausflug nach New York die Offenbarung, jener einschneidende Augenblick von Klarheit, der dich durch einen Spalt im Universum stieß und dir ermöglichte, wieder mit dem Schreiben anzufangen. Drei Wochen danach, versunken in den Prosatext, den du unmittelbar nach deiner Wiederbelebung, deiner Befreiung, deinem Neuanfang, begonnen hattest, traf dich der unerwartete Tod deines Vaters wie ein Hammerschlag. Du rechnest es deiner ersten Frau unendlich hoch an, dass sie in den furchtbaren Tagen und Wochen danach an deiner Seite blieb und dir half, die Beerdigung auszurichten und den Nachlass zu regeln, die Krawatten, Anzüge und Möbel deines Vaters zu entsorgen, den Verkauf seines Hauses zu organisieren (der bereits eingeleitet worden war) und auch sonst all die qualvollen praktischen Dinge zu erledigen, die der Tod im Gefolge hat, und da ihr nicht mehr oder nur noch auf dem Papier verheiratet wart, war der Druck des Verheiratetseins von euch genommen, und ihr konntet wieder Freunde sein, fast so wie in alten Zeiten. Du begannst den ersten Teil von
Die Erfindung der Einsamkeit
zu schreiben. Als du im Frühjahr in die Varick Street zogst, warst du schon ziemlich weit damit.
[ 18 .] 153 Carroll Street; Brooklyn. Eine Schlauchwohnung im dritten Stock eines vierstöckigen Gebäudes in der Nähe der Henry Street. Alter: 33 bis 34 . Drei Zimmer, Essküche und Bad. Das Schlafzimmer ging nach vorn hinaus und war groß genug für ein Doppelbett für dich selbst und ein Einzelbett für deinen Sohn (dieselbe Schlafcouch, auf der du als Kind geschlafen und die du nach dem Verkauf des Hauses in Stanfordville wieder mitgenommen hattest). Zwei Zimmer in der Mitte, eins ohne Fenster, dein provisorisches Arbeitszimmer, das andere (ein Fenster mit Blick auf den Garten) dein Wohnzimmer, und ganz hinten das Bad – schäbig und heruntergekommen, ja, aber ein großer Fortschritt im Vergleich zu dem, wo du vorher gelebt hast. Die Varick Street musstest du im Januar 1980 verlassen (der Künstler gab sein Loft auf), und da die Mieten in Manhattan zu hoch für eine Wohnung waren, die Platz genug für dich und deinen zweieinhalbjährigen Sohn (der drei Tage die Woche bei dir lebte) geboten hätte, überquertest du den East River und machtest dich in Brooklyn auf die Suche. Warum hast du daran nicht schon 1976 gedacht?, fragtest du dich. Das war eindeutig eine bessere Lösung, als hundert Meilen weit in den Norden zu ziehen und ein Spukhaus in Dutchess County zu kaufen, aber Brooklyn war dir damals überhaupt nicht in den Sinn gekommen, denn New York war Manhattan und ausschließlich Manhattan, und die anderen Bezirke waren dir so fremd wie die entlegenen Länder Ozeaniens oder des nördlichen Polarkreises. Du gerietest nach Carroll Gardens, ein in sich verkapseltes Italienerviertel, wo man sich alle Mühe gab, dir zu zeigen, dass du nicht willkommen warst, und dich mit Argwohn und stummen Blicken bedachte wie einen Störenfried, einen
estranger
, dabei hättest du gut und gern als Italiener durchgehen können, aber zweifellos stimmte etwas nicht mit dir, mit deiner Kleidung vielleicht oder mit deinen Gesten, oder schlicht mit deinen Blicken. Fast zwei Jahre lang auf dem Weg zu deiner Wohnung in der Carroll Street immer wieder das Gleiche: die alten Frauen auf den Stufen vor ihren Häusern, die ihr Gespräch unterbrachen, wenn du in Hörweite kamst, und schweigend warteten, bis du vorbeigegangen warst, und die Männer, die mit leeren Mienen herumstanden oder unter die Motorhauben ihrer Autos spähten und deren Innenleben mit einer Ausdauer und Hingabe studierten, die dich an Philosophen auf der Suche nach der letzten Wahrheit der menschlichen Existenz erinnerte, und nur ein einziges Mal hat eine Frau dir zugenickt, nämlich als du mit deinem Sohn, deinem kleinen blonden Sohn, die Straße entlanggingst, ansonsten aber warst du ein Phantom, jemand, der nicht vorhanden war, weil er dort nichts zu suchen hatte. Deine Vermieter, John und Jackie Caramello, beide Anfang dreißig, bewohnten die Gartenetage im Erdgeschoss, und immerhin diese beiden waren umgänglich und freundlich und legten dir gegenüber keinerlei Ressentiments an den Tag, aber sie waren schließlich deine Altersgenossen und hegten nicht mehr die Vorurteile der Generation ihrer Eltern. Joey Gallos Tante lebte in deinem Block, gleich um die Ecke in der Henry Street waren die Lokale, wo sich tagsüber die Alten trafen, und dass Carroll Gardens als sicherstes Viertel der
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