Winterjournal (German Edition)
zwanzigsten Jahrhunderts, dich um deinen verwirrten und manchmal aggressiven dreijährigen Sohn gekümmert hast, bei so vielem also, was gleichzeitig über dich hereinbrach, unter anderem auch der beinahe tödliche Herzstillstand des zweiten Manns deiner Mutter nur zehn Tage nach der Beerdigung deines Vaters und sechs Monate darauf die Nächte im Krankenhaus, wo du über den rapiden Verfall und das Sterben deines Großvaters wachtest, konnte es vermutlich nicht ausbleiben, dass dein Körper wieder verrücktspielte, diesmal mit hämmerndem Herzklopfen, mit unregelmäßigen Pulsschlägen, die sich plötzlich und unerklärlich in deiner Brust beschleunigten, mit Anfällen von Herzrasen, die nachts kurz vorm Einschlafen kamen oder dich auffahren ließen, wenn du gerade eingeschlafen warst, entweder allein im Zimmer mit deinem Sohn oder neben den schlafenden Körpern von Ann, Françoise oder Ruby, mit hektisch klopfendem Herzen, das so laut und nachdrücklich in deinem Schädel pochte, dass du dachtest, das Geräusch käme von irgendwo im Zimmer – wie sich schließlich herausstellte, war es ein Schilddrüsenleiden, das deinen Organismus völlig aus der Bahn geworfen hatte und gegen das du zwei oder drei Jahre lang Medikamente schlucken musstest. Dann, am 23 . Februar 1981 , zwanzig Tage nach deinem vierunddreißigsten Geburtstag, nur vier Tage nach ihrem sechsundzwanzigsten Geburtstag, bist du ihr begegnet, wurdest du der Einen vorgestellt, der Frau, die seit jenem Abend vor dreißig Jahren an deiner Seite ist, deine Frau, die große Liebe, die dich aus dem Hinterhalt überfiel, als du am wenigsten damit gerechnet hattest, und in den ersten Wochen, die ihr zum großen Teil im Bett verbrachtet, habt ihr ein Ritual entwickelt, euch gegenseitig Märchen vorzulesen, und sechs Jahre lang daran festgehalten, bis dann eure Tochter zur Welt kam, und nicht lange nachdem ihr entdeckt hattet, welch intimes Vergnügen es bereitet, einander so vorzulesen, schrieb deine Frau ein langes Prosagedicht mit dem Titel
Dir vorlesen
, dessen vierzehnter und letzter Teil im Schlafzimmer deiner Wohnung in der Carroll Street 153 spielt und deinen unregelmäßigen Herzschlag heraufbeschwört:
Der grausame Vater schickt den dummen Jungen in den Wald, wo er getötet werden soll, aber der Mörder kann es einfach nicht tun, er lässt ihn laufen und bringt dem Vater stattdessen das Herz eines Rehbocks, und der Junge spricht mit den Hunden und den Fröschen und den Vögeln, und schließlich flüstern ihm die Tauben in die Ohren, flüstern ihm ein ums andere Mal die Worte der heiligen Messe in die Ohren, und anderswo flüstere ich in deine Ohren, Botschaften von mir an dich, Botschaften über deine Kniekehlen, deine Armbeugen und die Vertiefung in deiner Oberlippe, von mir an dich, auch wenn du jetzt fort bist. Ich flüstere wie die Vögel in der Geschichte, die ich dir vorgelesen habe, ein ums andere Mal in dem Zimmer, in das du mich gebracht hast. Die Teile sind immer dieselben, aber veränderlich, immer in Bewegung, unmerklich changierend wie deine Miene von Lächeln zu Ernst, wenn du im dünnen Licht dich über mich beugst. So wünsche ich dir eine Geschichte im Lesen, im Schreiben. Wir erben auch Geschichten, Umstände, Gesichter, Herzen, Blasen, schwach und leidgeprüft. Sein Herz ist von Wasser umschlossen, es ertrinkt, das kranke Herz, das Herz, das kranke und leidgeprüfte, es klopft in dir manchmal zu schnell, und du musst Medikamente nehmen, um es zu bremsen, um es in den richtigen Rhythmus zu bringen und ihm das Holpern und Stolpern auszutreiben. Ich wünsche dir eine Geschichte im Bett, wo man den Mond hinhängt, wenn die alten Männer gestorben sind, damit er allezeit auf dich scheint und nicht aufhört zu scheinen, auch wenn er es nicht aus eigenem Licht vermag, sondern aus geborgtem und zyklischem. Ich werde den Mond nehmen, das Borgen und Stehlen und den Wechsel von Groß zu Klein. Den winzigsten Mond, dünn und schwach hinter einer Wolke im Winter, den nehme ich.
[ 19 .] 18 Tompkins Place; Brooklyn. Die oberen beiden Etagen eines vierstöckigen Brownstone-Hauses in einer Reihenhauszeile in Cobble Hill, dem Viertel zwischen Carroll Gardens und Brooklyn Heights. Alter: 34 bis 39 . Keine halbe Meile von der 153 Carroll Street entfernt, und doch eine ganz andere Welt mit einer Einwohnerschaft, die stärker gemischt und vielfältiger war als die ethnische Enklave, in der du die einundzwanzig Monate davor gelebt hattest. Keine von
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