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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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der unteren Hälfte des Hauses abgeschlossene Maisonette, sondern einfach zwei Etagen, die niedrige obere mit winziger Küche, geräumigem, zum Wohnzimmer hin offenem Essbereich und einem kleinen Arbeitszimmer für deine Frau; in der unteren Etage: ein kompaktes Schlafzimmer, ein größeres Schlaf- und Spielzimmer für deinen Sohn und ein Arbeitszimmer für dich, genauso groß wie das deiner Frau oben. Alles in allem etwas schludrig gebaut, aber größer als alle deine früheren Wohnungen und in einem Block von großer architektonischer Schönheit gelegen: Alle Häuser stammten aus den 1860 er Jahren, vor jeder Tür brannte nachts eine Gaslaterne, und wenn im Winter alles verschneit war, konntest du dir vorstellen, du seist ins neunzehnte Jahrhundert zurückgereist und müsstest nur die Augen schließen und die Ohren spitzen, um die Geräusche von Pferden auf der Straße zu hören. In dieser Wohnung habt ihr an einem schwülen Tag Mitte Juni geheiratet, an einem dieser heißen, bewölkten Frühsommertage, am äußersten Horizont zogen träge Gewitter auf, der Himmel verfinsterte sich in unmerklichen Schritten, und kaum wart ihr zu Mann und Frau erklärt, genau in dem Augenblick, als du deine Frau in die Arme nahmst und sie küsstest, brach das Gewitter los, ein ungeheurer Donnerschlag krachte unmittelbar über euch durch die Luft, rüttelte an den Fenstern, ließ den Boden unter euren Füßen erbeben, die Leute im Zimmer stöhnten auf – es war, als kündeten die himmlischen Mächte der Welt von eurer Vermählung. Ein unheimliches Stückchen dramatischen Timings, das nichts bedeutete und doch etwas zu bedeuten schien, und zum ersten Mal in deinem Leben hattest du das Gefühl, Teil einer kosmischen Veranstaltung zu sein.
    [ 20 .] 458  Third Street, Apartment 3 R; Brooklyn. Eine langgestreckte, schmale Wohnung, die eine Hälfte der dritten Etage eines vierstöckigen Gebäudes in Park Slope einnahm. Wohnzimmer mit Blick auf die Straße, Esszimmer und Küchenzeile in der Mitte, daran angrenzend ein mit Bücherregalen vollgestellter Flur, der zu drei kleinen Schlafzimmern führte. Alter: 40 bis 45 . Beim Einzug in die vorherige Wohnung am Tompkins Place hatte dein Vermieter, der im selben Haus unter dir wohnte, dich darauf hingewiesen, dass du nicht für immer dort wohnen könntest, dass er und seine Familie irgendwann das ganze Haus übernehmen würden. Sicher hast du das zu dem Zeitpunkt verstanden, aber nach fünf Jahren und einem Monat dort – dein längster Aufenthalt in irgendeiner Behausung seit deiner Kindheit in der Irving Avenue – hattest du den Gedanken an einen unfreiwilligen Weggang allmählich verdrängt, und da die Jahre am Tompkins Place die bisher glücklichste, erfüllteste Zeit deines Lebens waren, wolltest du den Tatsachen einfach nicht ins Auge sehen. Dann, im November 1986  – nur eine Woche nachdem ihr erfahren hattet, dass deine Frau schwanger war –, teilte der Vermieter dir höflich mit, die Zeit sei abgelaufen und er werde den Mietvertrag nicht verlängern. Das traf euch wie ein Schlag, und da ihr nie wieder in eine solche Lage geraten wolltet, die Vorstellung nicht ertragen konntet, irgendwann in der Zukunft noch einmal aus einer Wohnung vertrieben zu werden, machtet ihr euch auf die Suche nach einer Eigentumswohnung, nach etwas Eigenem, wo ihr nicht den Launen anderer Leute ausgeliefert sein würdet. Bis zum Börsencrash von 1987 sollte es noch elf Monate dauern, aber der New Yorker Immobilienmarkt war schon völlig außer Kontrolle, die Preise stiegen von Woche zu Woche, von Tag zu Tag, von Minute zu Minute, und da euch für eine Barzahlung nur ein gewisser Betrag zur Verfügung stand, musstet ihr euch mit etwas zufriedengeben, das nicht ganz euren Bedürfnissen entsprach. Die Wohnung in der Third Street war durchaus in Ordnung, mit Abstand die beste der vielen Wohnungen, die ihr auf eurer Suche besichtigt hattet, aber zu klein für vier Leute, zumal zwei davon Schriftsteller waren, die dort nicht nur wohnen, sondern auch arbeiten wollten. Die drei Schlafzimmer waren ja schon vergeben: eins für dich und deine Frau, eins für deinen Sohn (der weiterhin die Hälfte der Zeit bei dir wohnte) und eins für eure kleine Tochter, und selbst das größte dieser drei, das sogenannte Elternschlafzimmer, war so knapp zugeschnitten, dass ein Schreibtisch nicht hineinpasste. Deine Frau erbot sich, ihren Arbeitsplatz in einer Ecke des Wohnzimmers aufzuschlagen, und du nahmst ein winziges

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