Winterjournal (German Edition)
bliebt die verabredeten sechs Monate, aber nicht länger. Für Kalifornien sprach vieles, du warst bezaubert von der Landschaft, der Vegetation, dem stets präsenten Eukalyptusduft, den Nebeln und dem alles verschlingenden Licht, aber nach einer Weile stelltest du fest, dass New York dir fehlte, die Unermesslichkeit und der Tumult von New York, denn je besser du San Francisco kennenlerntest, desto kleiner und langweiliger kam es dir vor, und mochtest du auch kein Problem damit haben, in äußerster Abgeschiedenheit zu leben (die neun Monate im Var, zum Beispiel, eine sehr fruchtbare Zeit für dich), befandest du, wenn du schon in einer Stadt leben wolltest, dann musste es eine große Stadt sein, die größte Stadt, anders gesagt, du konntest mit beiden Extremen etwas anfangen, mit weit abgelegenen ländlichen Gebieten und mit gewaltigen Stadtlandschaften, beides schien dir unerschöpflich, aber kleine Städte und Dörfer nutzten sich zu schnell ab und ließen dich am Ende kalt. Also gingt ihr im September nach New York zurück, nahmt wieder die Dachwohnung mit Blick auf den Hudson in Besitz (die ihr für die Zeit untervermietet hattet) und grubt euch ein. Aber nicht für lange. Im Oktober kam die gute Nachricht – die sehnlich erhoffte Nachricht, dass ein Kind unterwegs war –, was bedeutete, dass ihr euch einen anderen Platz zum Leben suchen musstet. Du wolltest in New York bleiben, für dich kam nur New York in Frage, aber New York war zu teuer, und nach monatelanger Suche nach einer größeren Wohnung, die ihr euch leisten konntet, hast du die Niederlage akzeptiert und anderswo zu suchen begonnen.
[ 16 .] 252 Millis Road; Stanfordville, New York. Ein weißes, zweigeschossiges Haus im Norden des Dutchess County. Baujahr unbekannt, aber weder neu noch sonderlich alt, was auf irgendein Jahr zwischen 1880 und 1910 schließen lässt. Ein halber Morgen Land, hinten ein Gemüsegarten, vorne eine von Kiefern beschattete Wiese und zwischen eurem Grundstück und dem südlichen Nachbarn ein kleines Stückchen Wald. Ein abgenutztes, aber nicht völlig verfallenes Anwesen, an dem sich, wenn man über die Mittel verfügte, nach und nach einiges verbessern ließe, mit Wohnzimmer, Esszimmer, Küche und einem Arbeits- oder Gästezimmer im Parterre und drei Schlafzimmern oben. Kaufpreis: 35 000 Dollar. Eins von mehreren Häusern an einer mäßig befahrenen Landstraße. Nicht so extrem abgelegen wie die Provence, aber doch ein Leben auf dem Lande, und mangelte es auch an altruistischen Zahnärzten und linken Bauern, so waren deine Nachbarn an der Millis Road freundliche, anständige Bürger, viele davon junge Paare mit kleinen Kindern, die du allesamt mehr oder weniger gut kennenlerntest, aber was dir von den Nachbarn im Dutchess County am deutlichsten in Erinnerung geblieben ist, sind die Tragödien, die sich in diesen Häusern abspielten, zum Beispiel die Frau, die mit achtundzwanzig an MS erkrankte, oder das vergrämte Paar nebenan, dessen Tochter im Jahr zuvor mit fünfundzwanzig an Krebs gestorben war, die Mutter nur mehr Haut und Knochen und dem Gin verfallen, ihr liebevoller Mann nach Kräften bemüht, sie zu stützen, so viel Leid hinter den verschlossenen Türen und zugezogenen Fenstern dieser Häuser, und auch dein Haus machte da keine Ausnahme. Alter: 30 bis 31 . Eine trostlose Zeit, ohne Frage die trostloseste Zeit, die du jemals durchlebt hast, einziger Lichtblick die Geburt deines Sohnes im Juni 1977 . Aber hier brach deine erste Ehe auseinander, hier erdrückte dich die Last ständiger Geldsorgen (wie in
Von der Hand in den Mund
beschrieben), und hier bist du als Dichter in die Sackgasse geraten. Du glaubst nicht an Spukhäuser, aber im Rückblick auf diese Zeit kommt es dir vor, als hättest du dort unter einem bösen Fluch gelebt, als sei dieses Haus zumindest teilweise schuld an dem Ungemach gewesen, das dort über dich hereinbrach. Bis zu deinem Einzug hatten dort jahrzehntelang zwei unverheiratete Schwestern gelebt, Deutsch-Amerikanerinnen namens Stemmerman, schon hochbetagt, als du ihnen das Haus abgekauft hast, Ende achtzig, Anfang neunzig, die eine blind, die andere taub, und beide seit fast einem Jahr im Pflegeheim. Eine Nachbarin, die ein paar Häuser weiter wohnte, führte die Verhandlungen für sie – eine temperamentvolle Frau, auf Kuba geboren, mit einem stillen amerikanischen Automechaniker verheiratet, Sammlerin von kleinen Glaselefanten (!?) – und erzählte dir so manche Geschichte von
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