Winterjournal (German Edition)
den berüchtigten Stemmerman-Schwestern, die sich anscheinend hassten und seit der Kindheit in tödlichem Streit miteinander lagen, ein Leben lang aneinandergekettet und dennoch bis zum letzten Augenblick erbitterte Feinde, die sich immer wieder so laut und heftig gezankt hatten, dass ihr Gezeter in der ganzen Millis Road zu hören gewesen war. Als die Nachbarin schilderte, wie die taube Schwester die blinde Schwester manchmal zur Strafe unten im Wandschrank eingeschlossen hatte, fielen dir unwillkürlich Szenen aus Schauerromanen ein und dieser kitschige Schwarzweißfilm mit Bette Davis und Joan Crawford aus den frühen Sechzigern. Ist das nicht amüsant, dachtest du, was für groteske, verrückte Gestalten, aber das ist jetzt alles Vergangenheit, du und deine schwangere Frau, ihr werdet das alte Haus mit jugendlichem Elan erfüllen, alles wird sich ändern – wobei du völlig außer Acht gelassen hast, dass die Stemmermans dort fünfzig oder sechzig Jahre lang gelebt hatten, vielleicht siebzig oder achtzig Jahre lang, und dass jeder Quadratzentimeter des Hauses von ihrem bösen Wesen durchtränkt war. Die taube Schwester hattest du einmal im Haus der Kubanerin getroffen (wo sie gerade bei dem Versuch, eine Tasse lauwarmen Tee zu trinken, mit dem Erstickungstod kämpfte), aber da schien sie dir recht gutartig, und du dachtest nicht weiter darüber nach. Dann zogt ihr ein, und beim Saubermachen und Umstellen der Möbel (von denen einige zum Haus gehörten) schobt ihr oben im Flur auch einen Kleiderschrank von der Wand und fandet auf dem Boden dahinter eine tote Krähe – eine seit langem tote Krähe, völlig vertrocknet, aber unversehrt. Nein, das war nicht amüsant, ganz und gar nicht amüsant, und obwohl ihr beide es mit einem Lachen abzutun versuchtet, musstest du noch monatelang danach an diesen toten Vogel denken, diesen toten schwarzen Vogel, den klassischen Vorboten schlechter Zeiten. Am nächsten Morgen entdecktet ihr hinten auf der Terrasse zwei oder drei Bücherkisten, und da du neugierig warst, ob vielleicht etwas Brauchbares darin sei, warfst du einen Blick hinein. Zum Vorschein kamen Broschüren der John Birch Society, Taschenbücher über die kommunistische Verschwörung zur Infiltration der amerikanischen Regierung, etliche Bände über das Komplott zur Verblödung amerikanischer Kinder durch Fluoridierung des Trinkwassers, englische Nazi-Traktate aus der Vorkriegszeit, und schließlich, am beunruhigendsten,
Die Protokolle der Weisen von Zion
, das Buch der Bücher, die widerlichste und einflussreichste Verteidigung des Antisemitismus, die jemals geschrieben wurde. Du hattest noch niemals ein Buch weggeworfen, warst noch nie in Versuchung gewesen, ein Buch wegzuwerfen, aber diese Bücher hast du weggeworfen, hast die Kisten zur Müllkippe gefahren und mit Vorsatz unter einen Haufen stinkenden Mülls geschoben. Unmöglich, mit solchen Büchern in einem Haus zusammenzuleben. Du hofftest, damit wäre die Sache erledigt, aber auch nachdem die Bücher fortgeschafft waren, war es unmöglich, dort zu leben. Du hast es versucht, aber es war schlichtweg nicht möglich.
[ 17 .] 6 Varick Street; Manhattan. Ein Zimmer in der obersten Etage eines zehnstöckigen Industriegebäudes in der Gegend, die heute Tribeca heißt. Du warst der Unteruntermieter einer ehemaligen Freundin eines deiner Kindheitsfreunde. Einhundert Dollar im Monat für das Privileg, im Büro eines ehemaligen Elektrizitätswerks kampieren zu dürfen, in einem ausgeschlachteten Gehäuse, das nicht für menschliche Bewohner gedacht war und bis vor kurzem dem Künstler im Loft auf derselben Etage als Lagerraum gedient hatte. Ein Waschbecken mit kaltem Wasser, aber kein Bad, keine Toilette, keine Küche. Lebensumstände ähnlich denen in deinem Dienstmädchenzimmer in der rue du Louvre in Paris, nur dass dieser Raum drei- bis viermal größer war als jener – und drei- bis viermal schmutziger. Alter: 32 . Bevor du Anfang 1979 dort gelandet bist: ein Wirbelsturm aus Erschütterungen, plötzlichen Veränderungen und inneren Umwälzungen, der dich umstülpte und deinem Leben eine andere Richtung gab. Nach dem Scheitern deiner Ehe wusstest du nicht wohin, hattest kein Geld für einen Umzug, selbst wenn du gewusst hättest wohin, und bist im Dutchess County geblieben, dein Bett die Schlafcouch in der Ecke deines Arbeitszimmers, die, wie dir jetzt (zweiunddreißig Jahre später) wieder einfällt, dein Kinderbett gewesen war. Ein paar Wochen später
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