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Winterkill

Winterkill

Titel: Winterkill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ueberreuter
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Seit einiger Zeit konnte man auch unter der Erde telefonieren, aber das Rattern der Wagen war so laut, dass man leicht das Klingeln überhörte. Sie würde schon kommen. Bei diesem Wetter konnte man sich schon mal zehn Minuten verspäten. Bis zum Kino waren es nur wenige Minuten, eine gute Viertelstunde hatten sie noch Zeit.
    Um halb acht versuchte es Sarah noch einmal. Wieder nur die Mailbox. Noch zehn Minuten, sagte sie sich, wenn sie dann nicht hier ist oder immer noch nicht ans Telefon geht, fahre ich nach Hause. Sie setzte sich auf einen der Barhocker und blickte aus dem Fenster, hatte den Eingang zur U-Bahn-Station genau vor Augen. Durch den Schnee erschienen die Menschen, die aus dem Untergrund stiegen, wie eine graue und undefinierbare Masse. Nur selten blitzte ein roter oder ein gelber Anorak dazwischen auf. Die meisten Leute, sie eingeschlossen, trugen Schwarz oder dunkle Farben, selbst die Autos hatten keine leuchtenden Farben. Ethans Anorak war dunkelrot, fiel ihr ein, die Kapuze schwarz abgesetzt, ein Logo auf der Brust. L. L. Bean, ein Anorak von L. L. Bean, der Freizeitmode-Firma in New England.
    Eine Viertelstunde später gab Sarah auf. Nur um sich später nichts vorwerfen zu müssen, rief sie noch einmalbei Carol an, wieder vergeblich. Enttäuscht steckte sie ihr Handy ein. Sie hatte sich auf den Abend mit Carol gefreut, so wäre sie endlich mal wieder unter Leute gekommen. Seit sie die Ausstellung vorbereiteten, hatte sie fast jeden Tag bis spätabends gearbeitet und keine Lust mehr gehabt, auszugehen. Ein bisschen fernsehen, ein paar Seiten lesen, einige Worte mit Carol wechseln, mehr war nicht drin gewesen. Egal, sagte sie sich, es gab sicher einen triftigen Grund, warum Carol nicht gekommen war und nicht angerufen hatte. Sie würden den Abend nachholen, nächste Woche vielleicht. Der Film lief ihnen nicht weg.
    Sie zog den Reißverschluss ihres Anoraks nach oben, hängte sich ihre Tasche über die linke Schulter und verließ den Coffeeshop. Im Vorbeigehen warf sie den leeren Pappbecher in den Papierkorb. Auf dem Gehsteig blieb sie einen Moment stehen und blickte in den Flockenwirbel, so wie es die älteren Leute ihres Volkes taten, wenn der erste Blizzard aus dem Norden kam und das Land unter einer weißen Decke begrub. In den alten Zeiten hatten die Anishinabe im Winter oft großen Hunger gelitten.
    Diesmal wartete sie geduldig, bis die Ampel auf Grün schaltete, doch schon nach wenigen Schritten auf dem Zebrastreifen stieß sie mit einem älteren Mann zusammen, der ihr seinen Krückstock gegen die Beine schlug, mit voller Absicht, wie sie glaubte, und sich nicht mal entschuldigte. Als sie vor Schmerz aufschrie und ihn vorwurfsvoll anblickte, starrte er sie aus seltsam ausdruckslosen Augen an. Ein Blinder, glaubte sie zuerst, doch dann trat ein rötliches Glimmen in seine Augen, und über seine Lippen kam ein heiseres Fauchen wie das einer Raubkatze.
    Sie blieb entsetzt stehen und blickte dem Mann nach, bis hektisches Hupen sie aus ihrer Erstarrung löste und sie sich von Autos umringt sah. Sie lief rasch zur U-Bahn-Station und hielt sich am Treppengeländer fest, war kurz davor, die Nerven zu verlieren und in Tränen auszubrechen. Die anderen Leute beachteten sie nicht, niemand schien den Mann mit den glühenden Augen gesehen zu haben. Nur ein Junge, etwas jünger als sie, starrte sie an und schien sich krampfhaft zu überlegen, wie er sie am besten ansprechen könnte. Das fehlte mir gerade noch, dachte sie und lief rasch zum Bahnsteig hinab.
    In der »El« hatte sich Sarah noch nie gefürchtet. »El« oder »Elevated« nannte man die Hochbahn von Chicago, weil sie meist auf erhöhten Schienen fuhr, die wenigen Meilen in der Innenstadt ausgenommen. Die Bahn war sicherer, als manche Leute glauben wollten. Sarah war ein paarmal von irgendwelchen Kerlen angemacht worden, aber das passierte einer jungen Frau überall, wenn sie einigermaßen gut aussah, und die meisten Männer machten glücklicherweise sofort einen Rückzieher, wenn sie ihnen eine Abfuhr erteilte.
    Obwohl die Bahn kaum besetzt war, blieb Sarah stehen. Sie war viel zu nervös, um sich zu setzen. Der alte Mann mit dem Stock geisterte noch immer durch ihre Gedanken. Die Erinnerung an seine glühenden Augen jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken, obwohl der Wagen so überheizt war, dass manche Fahrgäste sogar ihre Jacken ausgezogen hatten.
    Sie hielt sich mit beiden Händen an der Stange fest. Die Wagen ratterten schaukelnd

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