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Winterkill

Winterkill

Titel: Winterkill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ueberreuter
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und ächzend durch den düsteren Tunnel, vorbei an schwarzen Steinwänden mit verwinkelten Rohren und elektrischen Kabeln. Alle paar Sekunden huschte das Leuchten einer Notlampe vorbei.
    Im Fenster begegnete Sarah ihrem Spiegelbild, einer verkrampften Gestalt, die nichts mehr mit derselbstbewussten jungen Frau zu tun hatte, die sie noch vor wenigen Stunden gewesen war. Ihr Gesicht war blass, ihre Augen flackerten unruhig. Was, zum Teufel, war bloß mit ihr los? Warum sah sie plötzlich Gespenster? So überarbeitet, dass man sich von einem Wendigo verfolgt sah, konnte man doch gar nicht sein. Doch die Schmerzen in ihrem linken Bein waren der eindeutige Beweis dafür, dass sie sich den Angriff dieses alten Mannes nicht eingebildet hatte. Er hatte sie mit seinem Krückstock geschlagen, und dann seine glühenden Augen und dies bedrohliche Fauchen …
    Nördlich von North/Clybourn fuhr die Bahn aus dem Tunnel und wurde zur Hochbahn. Eingehüllt von dem unvermindert starken Schneetreiben und der Dunkelheit ratterten die Wagen über die erhöhten Schienen, dicht an den mehrstöckigen Wohnhäusern der nördlichen Vororte vorbei. Im Flockenwirbel verschwammen die Lichter der vielen Autos auf dem nahen Interstate Highway. Ihr Spiegelbild verblasste. Die Bremsen griffen quietschend vor der Einfahrt in den nächsten Bahnhof, ein schwarzer Junge stieg ein, den MP3-Player so laut gestellt, dass man fast jeden Ton hörte.
    Sarah entspannte sich ein wenig. Der Hip-Hop-Song, der aus den Kopfhörern drang, obwohl hektisch und voller dunkler Bässe, beruhigte sie. Sie rieb ihre feuchten Hände an den Jeans trocken, hielt sich schnell wieder fest, als der Zug in eine Kurve ging, und versuchte den Wendigo in die hinterste Ecke ihres Bewusstseins zu drängen. Es gelang ihr nicht ganz. Die Erinnerung an die glühenden Augen blieb, obwohl es dafür eine einleuchtende Erklärung geben musste, und als ihr einfiel, dass der Wendigo auch an Carols Verschwinden schuld sein könnte, spürte sie erneut, wie das Blut aus ihrem Kopf wich und sie sich krampfhaftbemühen musste, nicht in jedem Fahrgast einen Feind zu sehen. Sieh ihnen nicht in die Augen, hämmerte sie sich ein, sieh ihnen bloß nicht in die Augen!
    An der Addison stieg sie aus. Sie lief die Treppen zur Straße hinunter und warf einen kurzen Blick auf das Stadion der Chicago Cubs, den legendären Baseballclub der Stadt. Sie hatte nichts für »Männersport« übrig, weder für Baseball noch für Football und schon gar nicht für diese albernen Nascar-Autorennen. Warum erwachsene Männer sich daran erfreuen konnten, in hochgezüchteten Blechkisten im Kreis zu fahren, würde ihr ewig ein Rätsel bleiben.
    Bis zu dem Apartmenthaus, in dem sie mit Carol wohnte, waren es nur ein paar Minuten. Am Lincoln Park oder in Streeterville wohnte man eleganter, aber auch teurer, und weder sie noch Carols Eltern, die ihr die Wohnung und das College bezahlten, konnten diese hohen Mieten zahlen.
    Sie ging an dem Supermarkt vorbei, der neben einer Wäscherei und einigen anderen Läden an einer Kreuzung lag, und überquerte die Straße zum ersten der fünf Häuser, die sich wie riesige Dominosteine in den verschneiten Himmel erhoben. Zwölf Stockwerke zählte jeder Block, mit unzähligen Fenstern und kleinen Balkons, denen die meisten Leute so wenig vertrauten, dass sie nur ausrangierte Möbel oder ihre Fahrräder darauf abstellten. Vor ein paar Jahren hatten die Wohnblocks noch zu einer Gegend gehört, die man spätabends besser mied, aber nachdem sie renoviert und die Mieten erhöht worden waren, hatte sich das geändert. Ein unschätzbarer Vorteil, wie der konservative Bürgermeister des Vororts behauptete. Was er wohl zu ihr sagen würde, wenn er erfuhr, dass sie eine Anishinabe war und vor fünf Jahren noch im Reservat am Lake Superior in Minnesota gelebt hatte?
    Ihr Blick ging zum fünften Stock hinauf, als sie sich dem Haus näherte. Obwohl die Wohnblocks renoviert worden waren, gab es immer noch die eisernen Feuerleitern, baufällige Metallgerüste, die im Zickzack an den Seitenwänden herabführten. Hinter einigen Fenstern flimmerten Fernseher. Der eingezäunte Basketballplatz, auf dem sonst Kinder spielten, lag verlassen im Schneetreiben. Ein Mann stieg aus seinem geparkten Wagen, einem Kombi, und beeilte sich, ins Haus zu kommen.
    Im Aufzug fuhr Sarah nach oben. Ihre Gedanken waren bei Carol. Bilder aus einem Krimi, den sie vor einigen Tagen im Fernsehen gesehen hatte, schossen ihr durch den

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