Winterkill
Kopf. Erst vor ein paar Tagen war die Polizei im Haus nebenan gewesen. Ein Einbruch, hatte sie gehört. Die ältere Dame im Erdgeschoss, die alles zu wissen schien, was in der Nachbarschaft vorging, behauptete, es hätte sich um einen Fall häuslicher Gewalt gehandelt.
Sie stieß die Tür auf und ging durch den langen Flur zu ihrem Apartment. Hoffentlich war Carol nicht krank, dachte sie. Bestimmt hatte sie ihr Handy verlegt und die Verabredung einfach nur vergessen. Oder sie hatte einen netten Jungen getroffen und war mit ihm ausgegangen. Zu wünschen wäre es ihr, auch wenn sie nicht viel von Jungen zu halten schien. Obwohl sie ständig davon sprach, wie sehr ihr die College Boys auf die Pelle rückten, war sie noch mit keinem Jungen ausgegangen. Oder sie hatte nicht darüber gesprochen. Wenn Sarah sich recht erinnerte, war Carol ein paarmal während der letzten Tage weg gewesen, »einer dieser doofen Abendkurse«, hatte sie gesagt, aber wer wusste schon, was sie damit meinte.
Ihre Apartmenttür war nur angelehnt. Seltsam, durchfuhr es sie, wir schließen doch jedes Mal ab, wenn wir weggehen. Sie steckte ihren Schlüssel wieder ein und drücktevorsichtig die Tür nach innen. In dem kleinen Flur war es dunkel. Sie tastete nach dem Schalter und knipste das Licht an. Carol lag stöhnend und mit blutüberströmtem Gesicht auf dem Boden. »Carol! Mein Gott, Carol!«, rief Sarah.
Sie lief zu ihr und kniete neben ihr nieder, wusste vor lauter Aufregung nicht, was sie zuerst tun sollte. Carol war geschlagen worden, das sah man deutlich. Ihre Nase blutete, sah gebrochen aus, und ihre rechte Augenbraue war aufgeplatzt. Wie bei einem Boxer, der ohne Deckung in furchtbare Hiebe gelaufen und k. o. gegangen war. An ihrem Hals waren die Abdrücke von Händen zu sehen. Anscheinend hatte sie der Angreifer gewürgt. Sie hustete und röchelte und wollte etwas sagen, doch über ihre Lippen kam nur ein Krächzen.
Sarah gewann langsam die Fassung wieder und legte Carol vorsichtig auf die Seite, so wie sie es im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte. »Ich rufe einen Krankenwagen und die Polizei«, versprach sie.
Carols verzweifelter Blick hielt sie zurück. Sie wollte irgendetwas sagen, sie warnen. Wilde Panik spiegelte sich in ihren Augen. Ihre Pupillen weiteten sich wie bei einem hilflosen Opfer, das den tödlichen Schlag kommen sieht.
»Was, zum Teufel …«, rief Sarah. Sie wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, um zwei Männer aus dem Wohnzimmer kommen zu sehen. Zwei gefährlich aussehende Burschen mit Pistolen in den Händen. »Da ist sie!«, rief einer. »Haben wir dich endlich, du Miststück!«
Sarah hatte es nur einem Zufall zu verdanken, dass sie am Leben blieb. Gerade als einer der Männer abdrücken wollte, bellte es im Hausflur und ein großer Hund stürmte zur Tür herein.
»Toby! Komm zurück!«, rief eine Männerstimme. »Wie oft hab ich dir schon gesagt, du sollst nicht in fremde Wohnungen gehen! Komm sofort zurück!«
Sarah löste sich aus ihrer Erstarrung und ergriff die Flucht. In panischer Angst rannte sie an dem bellenden Hund vorbei aus der Wohnung und in den jungen Mann hinein, dem der Hund gehörte. Ein Nachbar, dem sie ein paarmal bei den Briefkästen begegnet war.
»Um Himmels willen!«, erschrak er. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich hab Toby nur von der Leine gelassen …«
»Rufen Sie die Polizei! Und einen Krankenwagen!«, fiel sie ihm ins Wort.
Sie schob ihn zur Seite und rannte weiter, an den Türen der Apartments entlang zum Aufzug. Keine Chance, der Aufzug war unterwegs, hielt gerade in einem der oberen Stockwerke. Bis er kam, würden Lichtjahre vergehen, so langsam, wie er fuhr. Bis dahin hätten die Männer sie längst eingeholt.
Schon erklangen hastige Schritte im Flur. Sie blickte zurück und sah ihre Verfolger aus der Wohnung stürmen. Sie rannten den Hundebesitzer über den Haufen und kümmerten sich nicht um seinen lautstarken Protest. Anscheinend hatte er die Pistolen in ihren Händen übersehen. »Was fällt Ihnen ein? Wie kommen Sie dazu …« Dazwischen aufgeregtes Hundegebell und Winseln. Toby hatte Carol gefunden.
Sarah sah die Männer kommen, riss die Metalltür gegenüber vom Aufzug auf und stürmte ins Treppenhaus. Einer Eingebung folgend rannte sie nach oben, in der Hoffnung, ihre Verfolger auszutricksen. Sie nahmen bestimmt an, dass sie nach unten rannte. Mehrere Stufen auf einmal nehmend hetzte sie die Treppen hinauf, war bereits zwei Stockwerke höher, als unten die
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