Winterkind
nackten Fuß, sie bückte sich danach und hielt das Fläschchen mit dem Tonikum in der Hand. Es musste vom Nachttisch gefallen sein. Ohne zu überlegen, schraubte sie den Deckel auf und trank. Der Schwindel schüttelte sie kurz; danach fühlte sie sich ruhiger werden.
Haltung. Schönheit. Stärke. Stärke …
Nachdenklich sah sie vor sich hin.
Erst, als sie im Bett lag, zog sie die Handschuhe aus. Sie tat es immer so schnell wie möglich und ohne hinzusehen. Die Handschuhe gehörten zu ihrer Kleidung wie das Korsett und die Tournüre. Sie hatte viele verschiedene Paare davon. Niemand wunderte sich darüber, dass sie sie auch im Haus trug. Das Personal hielt es sogar für besonders vornehm. Einmal, als sie heimlich an der Kellertür gelauscht hatte, wie jede gute Hausherrin das von Zeit zu Zeit tat, hatte sie Erna sagen hören:
„Unsere Gnäf’ ist vielleicht ein bisschen etepetete, aber dafür ist sie auch die Schickste in der ganzen Gegend!“
Sie hatte darüber gelächelt, aber es war ein bitteres Lächeln gewesen.
Erna hatte nicht gewusst, was sich unter den Handschuhen verbarg. Niemand wusste es – nicht einmal Johann. Denn selbst, wenn es statthaft gewesen wäre, dass sie ihn von sich aus berührte, wenn er zu ihr kam – selbst, wenn die Vorstellung, sie könnte etwas anderes tun in diesen Momenten, als still liegen zu bleiben und die Augen fest zu schließen, nicht so ungeheuer fremd gewesen wäre – selbst dann hätte sie ihren Ehemann niemals mit diesen Händen angerührt.
Sie hätte sich zu sehr geschämt.
Das Lampenlicht schimmerte auf ihren bloßen, glatten Handrücken, als sie die Handschuhe beiseitelegte, glänzte auf ihrem Ehering, gearbeitet wie eine feine goldene Schlange, die sich selbst in den Schwanz biss und so keinen Anfang und kein Ende hatte. Der einzige Schmuck, den sie alltags trug – ohne dass jemand ihn zu Gesicht bekam. Ein treuer, heimlicher Begleiter … Aber das war es nicht, weswegen sie die Handschuhe trug. Nein, das war es nicht.
Sie fühlte sich unendlich erschöpft. Und vielleicht lag es daran, dass sie vergaß, die Lampe gleich zu löschen, bevor sie ihre Hände zu sich zurückzog. Die Linke drehte sich unwillkürlich. Blanka zuckte zusammen.
Da waren sie, die Flecken. Diese furchtbaren schwarzgrauen Flecken, die ihre Handflächen entstellten. Seit Jahren schon. Sie wusste nicht, wann es angefangen hatte, woher es kam, wie sie es wieder zum Verschwinden bringen konnte. Schwarzgraue, leicht fransige Flecken, wie Regentropfen auf einer staubigen Straße. Die Haut darunter war verdickt und schuppig, wie mit Schwielen bedeckt. Schwielen, als ob sie auf dem Feld arbeitete … Sie hatte schon so vieles versucht. Hatte ihre Hände geschrubbt, bis sie bluteten, hatte sie mit Essenzen getränkt. Mit scharfem Haushaltsreiniger übergossen. Nichts hatte geholfen. Gar nichts.
Im Gegenteil. Ihre Hand lag vor ihr, offen auf der Bettdecke, und weil Blanka nicht anders konnte, als sie anzustarren, sah sie, dass es schlimmer geworden war, seitdem sie sie zuletzt angewidert betrachtet hatte. Mehr Flecken. Größere Flecken. Mehr schuppige Stellen. Wie in Trance legte sie die andere Hand daneben. Das gleiche Bild.
Es gab nichts, was sie tun konnte.
Und sie hatte keine Ahnung, woher es kam.
Sie blieb lange so sitzen. Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln und brannten ihr auf den Wangen. Sie war immer voller Makel gewesen. Immer, ihr ganzes Leben lang. Sie bemühte sich, sie kämpfte, um Haltung, um Würde, um Vollkommenheit, jeden Tag – kämpfte um all die Dinge, die für andere so leicht und selbstverständlich schienen. Aber sie versagte. Immer wieder. Sie konnte nicht aus dem Haus gehen, um Besuche zu erwidern, wie es sich gehörte. Sie hatte es nicht geschafft, so zu wirtschaften, dass Erna bei ihnen hätte bleiben können – hatte nicht einmal gewusst, dass sie hätte sparsamer sein sollen. Sie brachte Johann in Verlegenheit mit unangemessenen Fragen, unangemessener Schwäche. Sie war ihm keine Stütze, wie eine Ehefrau es sein sollte. Sie war nur eine Last. Und er zu freundlich, um sie deswegen zu schelten.
Die Tränen tropften auf ihre Hände. Und nun noch Johannas Krankheit! Sophie war es, die wusste, was zu tun war. Sophie hatte die Halswickel gemacht, dem wimmernden Mädchen mit dem scharfen Jod den Hals ausgepinselt. Alles, was Blanka hatte tun können, war, ihrer Tochter die Stirn abzutupfen und zu hoffen – zu hoffen, dass es besser werden würde, irgendwie.
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