Winterkind
jetzt atme aus.
Ihr blieb die Luft weg, von einem Moment auf den anderen. Ein Keuchen schoss aus ihrer Kehle.
Stärker!
Eiserne Ringe schienen sich um ihren Brustkorb zu schließen und pressten ihre Rippen nach innen. Sie krümmte sich, tastete nach Halt. Da war nur der Spiegelrahmen, ihre behandschuhten Finger berührten ihn. Dieses harte, harte, schwarze Holz … Ihre Finger zuckten davor zurück, glitten an den Steinen ab. Aber sie schwankte, es blieb ihr nichts anderes übrig. Sie klammerte sich fest, während der Raum um sie her verschwamm.
Haltung ist das Wichtigste. Haltung ist Schönheit, Haltung ist Stärke. Die einzige Stärke einer Frau. Wann wirst du das endlich begreifen, du dummes Ding? Ein Korsett kann niemals zu eng geschnürt sein. Es stützt deinen Rücken, richtet dich auf. Zwingt deinen Hals gerade, dein Kinn in die Höhe. Bis du über den Boden schwebst wie eine Königin. Bis niemand es im Traum mehr wagen würde, dich anzuzweifeln.
Blanka stöhnte auf, als der Druck zunahm. Schwarze und weiße Punkte tanzten vor ihren Augen. Der Spiegelrahmen knackte unter ihrem Klammergriff. Ein Zittern lief in Wellen durch ihren Körper, ein eisiger Schüttelfrost. Das Holz begann zu vibrieren.
Stell dich nicht an. Was gibt es sonst schon, außer Schönheit? Welcher Mann begehrt eine hässliche Frau? Willst du in einer Küche enden, Dienstmagd für einen Ehemann, der nur ans Essen denkt und dich auf dem Dachboden mit den Mädchen betrügt? Sei still, hör auf zu jammern! Du machst mich ganz krank mit deiner dummen Art.
Alles drehte sich. Sie zitterte jetzt so heftig, dass der ganze Spiegel in Bewegung geriet. Er rutschte von ihr weg, verzweifelt krallte sie sich an den Rahmen. Etwas polterte zu Boden, sie sah nicht, was es war. Da war nichts mehr um sie her außer wirbelnden Farbschlieren vor der Finsternis. Es fühlte sich an, als müsste sie ersticken.
„Mutter“, ächzte sie tonlos.
Sei still. Steh gerade. Steh gerade!
Sie fühlte, wie ihr Körper gehorchte. Etwas griff ihn und richtete ihn auf, Zentimeter um Zentimeter; etwas stützte ihren Rücken, zwang ihr Kinn nach oben. Die farbigen Schlieren umtanzten sie. Der Druck ließ nicht nach, aber je aufrechter sie stand, desto mehr öffnete sich in ihr ein winziger Hohlraum, ein fingerbreiter Spalt, in den sie Luft hinunterzwingen konnte. Ihre Kehle rasselte. Sie sehnte sich nach Luft, hätte am liebsten den Mund weit aufgerissen. Sie erlaubte es sich nicht. Das unsichtbare Etwas richtete sie weiter auf, und sie atmete in kurzen, flachen, hastigen Stößen durch die Nase.
Gut.
Heiße Dankbarkeit stieg in ihr auf. Sie wollte weinen und hatte doch nicht einmal hierfür genug Luft. Alles, was sie tun konnte, war stillzuhalten, geschehen zu lassen.
Gut. Und jetzt – sieh dich an.
Sie wollte gehorchen, merkte erst jetzt, dass sie die Augen zugepresst hatte. Als sie sie vorsichtig öffnete, zogen die bunten Schlieren an ihr vorbei, öffneten sich wie ein Vorhang, hinter dem Nacht war, Dunkelheit – Dunkelheit, bis auf eine einzige lichte Stelle. Genau dort, wo sie stand. Es gelang ihr, die Hand vom Spiegel zu lösen. Sie trat einen Schritt zurück. Öffnete beide Augen weit und betrachtete sich selbst, ohne zu blinzeln.
Weiß war sie in der Schwärze, die alles andere verschlang. Weiß und leuchtend und kerzengerade. Die eisernen Klammern hielten sie von innen umschlossen, alles, was weich gewesen war, schwammig und abstoßend. Ihre Taille wirkte schlanker als die eines Mädchens, ihre Hüften fest, ihre Brust hoch und rund. Sie stand, ohne jede Mühe, wie in Schwerelosigkeit, ohne zu schwanken, ohne nach Halt tasten zu müssen. Und im Spiegel konnte sie sehen, wie das schmalste, kleinste Lächeln sich auf ihre Lippen wagte.
Haltung, Blanka. Haltung ist alles. Haltung ist Schönheit. Schönheit ist Stärke. Bekämpf nie das, was dich stark macht. Leg niemals ab, was dich schützt.
Sie blinzelte. Mit einem Mal war der Raum wieder da, ihr Schlafzimmer, das sanfte gelbe Licht der kleinen Nachttischlampe. Der Druck verschwand, die eisernen Klammern gaben sie frei. Ihre Lungen füllten sich mit kühler Nachtluft, sie sah, wie ihr Bauch sich unter dem Hemd vorwölbte dabei. Schwäche sackte in ihren Beinen nach unten, das Gewicht ihres eigenen Körpers zog an ihren Schultern. Als sie den Spiegel vorsichtig wieder an seinen Platz zurückschob, musste sie sich an der Wand abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Etwas rollte gegen ihren
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