Winterkind
Sie war hilflos. Sie war schwach. Sie wusste es und konnte doch nichts dagegen tun.
Sie konnte nur ihre Makel verstecken, wie die Hände in ihren Handschuhen. Aber auch, wenn sie sie nicht mehr sah, wusste sie doch, dass sie da waren. Immer da sein würden.
Im Halbdunkel neben dem Bett schien ein Luftzug über das Spiegelglas zu wispern. Haltung, flüsterte es. Haltung. Schönheit, Stärke. Haltung … Wie von selbst ging ihr Kinn ein wenig in die Höhe, ihr Rücken richtete sich um eine Winzigkeit auf.
Leg niemals ab, was dich schützt … was dich stützt … was dich schützt …
Sie schluckte schwer.
Hast du denn wirklich so viel vergessen?
„Nein“, flüsterte sie in das stille Zimmer.
Sie hob die Hand, wischte sich die Tränen ab. Löschte das Licht und griff nach dem Tonikumfläschchen auf dem Nachttisch. Das Glas war kühl und beruhigend auf ihrer nackten Haut.
Was dich stützt … was dich beschützt …
„Was soll ich tun?“, wisperte sie dem Halbdunkel zu. „Was kann ich tun? Ich bin doch nur Blanka, die dumme, dumme Blanka …“ Ihre eigenen Worte schnitten ihr wie mit scharfen Glaskanten ins Herz. Aber noch während sie sie wisperte, begannen sich aus dem Irgendwo Gedanken in ihr zu formen. Vielleicht gab es doch Dinge, die sie tun konnte – Dinge, die andere Dinge verändern würden. Vielleicht war sie nicht so vollkommen hilflos, wie sie glaubte. Vielleicht musste sie nur lernen, sich auf die Stützen zu verlassen, die man ihr bot …
Morgen, dachte sie, schon im Halbschlaf, morgen würde sie Lieschen anweisen, das Korsett neu zu schnüren. Einen Fingerbreit enger als bisher. Und morgen – morgen würde ein besserer Tag werden.
Ihre Finger schlossen sich um das Tonikum, als sie langsam in Träumen versank. Ganz sacht klirrte der Ehering gegen das Glas.
Ein paar Türen weiter starrte Sophie vom Bett aus in den fallenden Schnee. Ihr Kopf war voller wirrer Gedanken. Johanna kreiste darin, und Gläser voller tödlichem Schnee, und Willem, und die Berührung von Lippen, die über ihre Haut strichen … Aber das alles war es nicht, was sie zum Frösteln brachte, während sie schlaflos zum Fenster starrte.
Morgen war Freitag. Zahltag.
Und kein Geld im Haus.
Wind kam auf, brachte den dichten weißen Vorhang draußen in Bewegung. Ein leichter, kalter Wind, der sich durch Ritzen und Spalten ins Herrenhaus tastete. Unter dem Kleid überzogen Sophies Arme sich mit einer Gänsehaut.
Als Elsbeth am nächsten Morgen verschwunden war, fragte das kleine Mädchen nach ihr. Sie war ihm die liebste Spielkameradin gewesen, immer, wenn die Köchin nicht aufpasste. Hatte ihm Lieder beigebracht, so schaurig-schöne, wie sie unten in der Küche gesungen wurden; hatte ihm Kränze geflochten aus Gänseblümchen. Hatte auch nie gepetzt, wenn man sich doch wieder zum Spielen in den Wald gestohlen hatte …
„Ist sie fort?“, fragte das kleine Mädchen, beharrlich und immer wieder. „Kommt sie denn nicht zurück?“ Es fragte immer weiter, obwohl die Stirn der Mutter sich drohend zu runzeln begann; es war, als ob es nicht aufhören könnte zu fragen. Es fragte so oft und so lange, dass die Mutter schließlich zornig wurde. Sie verbot dem kleinen Mädchen, jemals wieder von Elsbeth zu sprechen. Und als das Mädchen anfing zu weinen und sich nicht beruhigen wollte, schickte sie nach dem Doktor, der ihm eine Tinktur eingab. Da war das Mädchen still.
Nur der Puppe erzählte es, was es niemandem erzählen konnte. Der Puppe, die ja dabei gewesen war. Am Vortag, als die Mutter es aus dem Turmzimmer geschickt hatte. Als es ins Kinderzimmer hatte gehen sollen. Und nicht gegangen war. Wegen der Neugier, der dummen Neugier! Es erzählte der Puppe von der offenen Turmzimmertür, durch die man alles hören konnte, was drinnen gesprochen wurde; erzählte ihr davon, obwohl die Puppe doch längst alles wusste. Erzählte ihr auch von dem schrecklichen Schluchzen, das irgendwann dort drinnen angefangen hatte, und davon, wie man sich gegen kalte Mauersteine schmiegen musste, um nicht entdeckt zu werden, wenn jemand plötzlich aus dem Turmzimmer kam. Jemand, der dann schluchzend die Wendeltreppe hinunterstieg, so schwerfällig wie ein Kranker – und der nicht wiederkehrte.
Aber die Glasaugen der Puppe sahen das Mädchen streng an, und irgendwann verstand es, was sie ihm sagen wollten. Es hörte auf, von Elsbeth zu erzählen. Und es versprach der Puppe, nie wieder so ungehorsam zu sein. Dann setzte es sich in einen
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