Winterkind
mit dem alten spröden Fischbein. Lieschen löste die letzte Befestigung der Tournüre vom Korsett, und Blanka griff selbst nach vorn, an ihre Brust, um die Metallhaken zu öffnen, während sie vorsichtig aus dem zusammengefallenen Rockgestell stieg. Sie ließ das Korsett alle drei oder vier Tage neu von Lieschen schnüren, weil es sich immer wieder lockerte, wenn man es eine Weile trug; in der Zwischenzeit genügten die modernen Haken und Ösen an der Vorderseite, um bequemer und ohne fremde Hilfe hinaus- und hineinzukommen.
Blanka atmete aus, so tief sie konnte, bis ihr Brustkorb um eine Winzigkeit schmaler wurde und das Korsett locker genug saß, um die Haken zu öffnen. Sie tat es schnell, ohne hinzusehen, fand sich mit den Fingerspitzen zurecht. Als das Korsett ganz offen war und sie es Lieschen reichte, damit sie es beiseitelegte, hörte sie das Mädchen erschreckt einatmen.
„Ach, gnä’ Frau …!“
„Was ist denn?“
Sie drehte sich um; Lieschen hatte eine Hand vor dem Mund. Blanka sah an sich herunter. Das zarte weiße Hemd, das sie unter dem Korsett trug, hatte rote Flecken über den Rippenbögen. Verwundert strich sie darüber. Als ihre Finger den dünnen Stoff auf ihrer Haut verschoben, schoss ein scharfer Schmerz durch sie hindurch.
„Gnä’ Frau haben es mich neulich wieder zu eng anziehen lassen. Jetzt sind Sie wund gescheuert von den Stäben, weil Sie es nicht ausgezogen haben über Nacht. Ach je! Ich hole die Salbe von unten.“
„Nein“, sagte Blanka schnell. „Nein, Lieschen, ich …“ Sie wusste nicht, wie lange sie sich noch auf den Beinen halten konnte. Mit jedem Luftzug, der jetzt frei und ungehindert in ihre Brust strömte, fühlte sie sich wackeliger. Sie war so entsetzlich müde … „Lass nur, Lieschen, es ist nicht so arg. Ich habe es tagsüber ja nicht einmal bemerkt. Geh du zu Fräulein Johanna hinauf und kümmere dich um sie. Es sind bestimmt nur kleine Wunden, morgen sind sie schon verheilt.“
„Wenn gnä’ Frau meinen.“ Lieschen klang nicht überzeugt. Aber sie stemmte nicht wieder die Arme in die Seiten, sondern hängte Rock und Mieder sorgfältig in den großen Kleiderschrank und wandte sich dann folgsam zur Tür. Blanka zog das Tonikum aus dem Pompadour und ging nach nebenan, ins Schlafzimmer.
Auf der Türschwelle hätte sie beinahe aufgeschrien. Eine weiße Gestalt schien aus der Wand zu treten, auf sie zuzu-huschen … Zwei, drei klopfende Herzschläge dauerte es, bis sie sich selbst erkannte. Der Spiegel stand so, dass er halb zum Ankleidezimmer blickte. Der Spiegel.
Hatte sie wirklich den ganzen Tag nicht an ihn gedacht?
Langsam, zögernd, ging sie näher. Da stand er, schimmernd und stumm wie immer, als habe er geduldig auf sie gewartet. Sie sah sich auf ihn zuwandern, unförmig in dem Hemdchen, den aufbauschenden Spitzenhosen. Das Licht von der einzigen kleinen Nachttischlampe war sehr schwach. Ihr Gesicht war kaum zu erkennen, konturlos, matt, es verschwand fast zwischen den schwarzen Strähnen, die ihr jetzt lose über die Schultern fielen. Die kleinen Blutflecken auf dem Hemd wirkten dunkel. Wieder strich sie darüber, zwang sich, nicht zusammenzuzucken, als der Schmerz zubiss. Wohin war nur ihre Taille verschwunden? Unter dem Stoff war alles so weich, so schwammig. So verletzlich. Hilfloses weißes Fleisch.
Abstoßend.
Sie stellte das Tonikum auf dem Nachttischchen ab, neben der Bibel, wollte sich vom Spiegel abwenden, unter das Federbett kriechen. Die Augen zukneifen und nichts mehr sehen. Stattdessen richtete sie sich wieder auf und drehte sich seitlich zum Spiegel, fuhr über das Hemd, bis es ganz glatt herunterhing. War das da ihr Bauch, diese unförmige Erhebung? Und was war mit ihren Brüsten geschehen? Niemals hatte sie sie wissentlich betrachtet, und doch – man kam nicht umhin, sie zu bemerken, nicht wahr? Gelegentlich? Wenn man den Arm seitwärts bewegte, sich vorbeugte … Und immer war es etwas Festes gewesen, was sie gefühlt hatte, etwas Warmes, Rundes, fast wie ein Muskel. Aber was da jetzt unter dem Hemd zu hängen schien …
Steh nicht so krumm, du bekommst einen Buckel.
Sie fuhr zusammen. Der Spiegel warf ihren erschreckten Blick unter seinen Schleiern zurück.
Halt dich gerade, wie siehst du nur aus! Wie eine Küchenmagd. Die Zofe ist nachlässig mit dir gewesen. Sie zieht die Schnüre nie fest genug an. Aber ich werde nicht zulassen, dass meine Tochter eine Taille bekommt wie ein Bauerntrampel. Halt dich gerade! Und
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