Winterkind
warf sie sich den Morgenmantel um, den weiten, altmodischen aus bestickter Wolle, den sie eigentlich nur trug, wenn sie selbst schwer krank war, und steckte das Fläschchen in die Tasche. Dann verließ sie leise, auf bloßen Füßen, die Schlafkammer.
Im Kinderzimmer oben begrüßte sie ein schon vertrautes Bild. Lieschen war an der Wand zusammengesunken, schlummerte mit leicht geöffnetem Mund, einen ausgewrungenen Halswickel noch in der Hand. Auf dem Tisch neben dem Kinderbett stand die Schüssel mit Wasser, die große Teekanne, die Jodtinktur daneben. Die Luft im Zimmer war schwer und roch nach Krankheit. Einen Augenblick überlegte Blanka, ob sie das Fenster öffnen sollte, obwohl alle Ärzte rieten, dass bei Krankheit nichts so schädlich wäre wie frische Luft von draußen. Wie der leichte, kalte, saubere Wind wohl hineinfahren würde in das Zimmer, alles mit reinen, funkelnden Kristallen bedecken … Sie tat es nicht, weil Lieschen aufgewacht wäre.
Sie wollte mit ihrer Tochter allein sein.
Auf Zehenspitzen näherte sie sich dem Bett, den zerwühlten Laken, aus denen ein unordentlicher schwarzer Schopf hervorsah. Johanna lag auf der Seite, den schmalen Rücken zum Zimmer gekehrt. Je näher Blanka kam, desto deutlicher hörte sie ihren mühevollen Atem. Es schnürte ihr den eigenen Hals zu. Wie lange war es her, dass sie sich Johanna so nahegefühlt hatte wie in diesem Moment, als sie sie dort liegen sah, so zerzaust, hilflos, so voller Leid? Sie hätte in Tränen ausbrechen mögen über ihr armes, gequältes Kind. Aber zum Weinen war sie nicht gekommen. Nein, nicht zum Weinen.
Was wollte sie dann tun? Sie wusste es noch nicht genau. Aber sie spürte, dass sie es wissen würde.
Sie beugte sich über das Bett, drehte Johanna sanft zu sich herum. Das Gesichtchen glänzte immer noch rot und feucht, das Fieber wollte Johanna nicht aus seinen Klauen lassen. Sie murmelte heiser im Schlaf, als Blanka ihr behutsam die Strähnen aus der heißen Stirn wischte.
„Johanna“, flüsterte Blanka, setzte sich auf die Bettkante und zog das Mädchen vorsichtig in ihre Arme. „Johanna, Liebling. Du musst aufwachen.“
Das Kind krächzte schwach, wie ein kranker kleiner Vogel, ohne die Augen zu öffnen.
„Mama …“
„Ich bin hier, mein Schatz, mein Augenstern. Sch, sch, nicht so laut. Wir wollen doch Lieschen nicht aufwecken. Komm, mach die Augen auf. Sieh mich an, Johanna, Liebling.“
Wie mühsam Johanna die Lider hob. Ihre Augen, die vom Fieber hätten noch stärker glänzen müssen als sonst, waren stumpf und leer. Sie suchten blicklos im Raum, bis sie endlich die Mutter gefunden hatten; erst dann kam ein wenig Leben hinein.
„Mama … Ach Mama, die schrecklichen Flügel … die Hexe … sie lässt mich nicht in Ruhe, Mama. Und mir ist so heiß, so schrecklich heiß …“
„Sch, sch. Nicht sprechen.“
Sie nahm eines der Tücher auf, tauchte es in die Wasserschüssel und tupfte behutsam über Johannas Mund, die Wangen. Das Mädchen öffnete die Lippen unter den Tropfen.
„Hast du Durst, mein Liebling?“
Johanna nickte matt. Blanka hob den Deckel der Teekanne an. Auf dem Boden stand noch ein fingerbreiter Rest. Sie goss ihn in die Tasse daneben, für einen Moment erfüllte würziger Kräuterduft den Raum. Johanna sah zu ihr auf, verfolgte jede ihrer Bewegungen. Wie damals, als sie klein gewesen war, ein winziges Bündel Leben, ein Stück ihrer selbst, in flauschige Tücher gehüllt, unerklärlicherweise getrennt von ihr – und doch näher als jedes andere Wesen. Blanka lächelte auf sie herunter, in ihre eigenen hellblauen Augen hinein. Dann sagte sie, aus einem Impuls heraus:
„Noch einen Moment, mein Liebling.“
Sie zog das Tonikum aus der Tasche, schraubte den Deckel auf. Aus dem Fläschchen stieg der Geruch von Lavendel ihr wieder in die Nase, beruhigte sie und gab ihr Sicherheit. Ihre Stütze im Alltag, ihr Stärkungsmittel.
Jetzt war es Johanna, die Stärkung brauchte.
Plötzlich wusste Blanka, was sie tun konnte – nur sie und niemand sonst. Weil niemand sonst darauf gekommen war. Und weil niemand sonst diese kleine braune Flasche so oft in der Hand hatte wie sie. Sie drehte sie leicht zwischen den Fingern, bis sie das Etikett sehen konnte.
„… bei Fieber …“, las sie lautlos, und ein Lächeln breitete sich in ihrem Inneren aus.
Sie goss nur sehr wenig in die Tasse mit dem Kräutertee, viel, viel weniger als der Schluck, den sie selbst normalerweise nahm. Es hätte kaum
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