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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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Winkel und kämmte die Puppe, kämmte sie so lange, bis ihr das kostbare echte Menschenhaar in großen Büscheln ausfiel.

    Aber das Versprechen half nicht. Elsbeth kam nicht wieder. Und alles wurde anders im Schloss.
    Der Vater kam nur noch ganz selten nach Hause, und wenn er da war, scherzte er nicht mehr mit seiner Tochter wie früher, sondern hielt sie nur ein Weilchen traurig im Arm, ohne ein Wort zu sagen. Das Mädchen verstand seine Traurigkeit nicht. Die Mutter sah niemals traurig aus. Nicht einmal, wenn der Vater sich abwendete, sobald sie einen Raum betrat. Dann lachte sie und tat, als habe er es zum Scherz getan. Der Vater lachte nicht mit.
    Die Mutter schalt das Mädchen, wenn er wieder fort war. Es sei zu groß, um noch auf seinem Schoß zu sitzen, zu groß, um in seinen Haaren zu zausen. Zu groß auch längst, um noch an Mutters Rockzipfel zu hängen; zu groß für Wiegenlieder und für Puppenspiele. Die Spielsachen wurden in eine Truhe eingeschlossen, im Turmzimmer, hinter dem Spiegel; nur die eine Puppe mit den ausgekämmten Haaren konnte das Mädchen unter seinem Bett verstecken. Stattdessen wurde jetzt der Hofknicks geübt, das Tanzen und das richtige Bewegen des Fächers auf einem Ball. Das Mädchen bekam einen eigenen, winzig kleinen Fächer, und die Mutter zeigte ihm, wie es ihn halten musste. Wenn das Mädchen es richtig machte, gab es süße Kuchen oder Äpfel. Umarmungen gab es keine mehr.
    Irgendwann kam der Vater von einer Reise nicht mehr zurück. Jemand sagte, er sei auf der Jagd vom Pferd gestürzt. Auch das verstand das Mädchen nicht. Aber es begriff doch, dass der Vater nicht wiederkommen würde, gerade so, wie Elsbeth nicht wiedergekommen war, und da weinte und schrie es so furchtbar, dass der Doktor ihm eine neue Tinktur verschreiben musste. Das Mädchen war zu alt für Wiegenlieder und für Puppenspiele; und es war zu alt zum Weinen.
    Das Mädchen war kein kleines Mädchen mehr. Und es musste gehorsam sein.
    Aber wenn die Mutter es lächelnd mit dem Fächer auf die Finger schlug, weil es sich unbeholfen benahm, dann dachte das Mädchen an den Vater und an Elsbeth und an die schönen Spiele im Wald. Es versteckte sich mit der Puppe und streichelte sie stumm. Und es sehnte sich so sehr, dass es ihm in der Brust wehtat.

Fünf
    Blanka erwachte vom Säuseln des Windes. Als sie die Augen öffnete, tanzten draußen vor dem Fenster die Schneeflocken, und dahinter war die Welt in ein trübes, milchiges Weiß gehüllt. Die Wolken zogen langsam, tief über dem Boden dahin; das Licht war so schwach, dass sie keine Schatten warfen. Himmel und Erde, Wolken und Land verschwammen ineinander. Nur die tanzenden Flocken hatten noch Kontur. Und es fielen immer noch mehr aus dem Nichts.
    Wie spät es sein mochte, wusste sie nicht. Sie hatte erstaunlich tief geschlafen, so tief, dass es sie nicht gewundert hätte zu erfahren, dass längst der späte Vormittag angebrochen war. Gleichzeitig fühlte ihr Kopf sich so seltsam leicht und wattig an, wie es manchmal vorkam, wenn man viel zu wenig geschlafen hatte – wenn der Körper gar nicht mehr wusste, wie müde er eigentlich war. Ging sie danach, musste es noch sehr früh sein. Hatte Lieschen nicht versprochen, sie nach ein paar Stunden zu wecken?
    Sie richtete sich auf, streifte schnell, ohne hinzusehen, die Handschuhe über, und etwas rollte aus dem Bett auf den Fußboden. Sie hob das Tonikum von dem schmalen Läufer neben ihrem Bett auf und betrachtete es nachdenklich. Wie lange nahm sie es eigentlich schon ein? Sie konnte sich nicht an eine Zeit erinnern, in der es das braune Fläschchen mit dem hübschen Etikett nicht in ihrem Leben gegeben hatte. Immer stand eines neben ihrem Bett oder war in ihrem Pompadour. Ein Stärkungsmittel, wie es so viele andere gab. Stärkungsmittel …
    Sie warf einen vorsichtigen Blick zum Spiegel hinüber. Das Glas träumte verschleiert im trüben Licht, nichts regte sich, keine Stimme aus der Vergangenheit flüsterte. Und doch war es ihr so, als ob sie die Worte immer noch hörte, wie ein Echo, das nicht verklingen wollte: Haltung. Schönheit. Stärke …
    Im Bett noch trank sie einen großen Schluck aus der braunen Flasche, wartete den Schwindel ab, drehte sich die Haare auf dem Kopf zu einem losen Krönchen zusammen und stand auf. Sie wusste nicht, ob die Stunden, die Lieschen allein bei der kranken Johanna wachen wollte, schon vorüber waren oder nicht, aber es zog sie nach oben, zu ihrer kranken Tochter. Flüchtig

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