Winterkind
Bett hoch, sackte halb in die Knie, richtete sich wieder auf und taumelte auf ihre Mutter zu, einen Schritt nach dem anderen. Blanka von Rapp hielt ihr die Hand entgegen, und Johanna streckte beide Arme danach aus. Bevor sie sie erreichen konnte, gaben die Beine unter ihr nach und sie fiel polternd zu Boden.
„Mama …!“
Von einem Moment zum anderen verzerrte sich Blanka von Rapps Gesicht. Sie beugte sich über das Kind und fauchte:
„Nimm dich zusammen, habe ich gesagt! Hast du mich nicht verstanden? Was denkst du, wie du aussiehst? Jämmerlich, unerträglich!“ Die Worte strömten ihr wie Gift aus dem Mund. „Steh auf, steh auf! Wo bleibt deine Haltung? Wie kann man sich nur so gehen lassen! Bist du ein Wickelkind? Ich weiß schon, was ich mit dir machen werde! Ich will dich zum Spiegel bringen, er soll dir sagen, wie widerwärtig du aussiehst! Dann wirst du wohl begreifen, dass ich nur dein Bestes will. Steh endlich auf! Und wag es nicht zu weinen.“
Johanna begann zu schluchzen. Sophie biss die Zähne aufeinander, stieß sich von der Wand ab und kniete sich neben das Mädchen auf den Boden.
„Alles ist gut“, flüsterte sie so beruhigend, wie ihr wild klopfendes Herz es zulassen wollte, „alles ist gut, komm, ich bringe dich zurück ins Bett.“
„Was tun Sie da!“
Sophie zog Johanna in ihre Arme. Der kleine Körper zitterte. Wut stieg in ihr hoch, kalt schäumende Wut, wie Meeresgischt.
Sie blickte auf, direkt in Blanka von Rapps Augen hinein.
„Gnädige Frau“, sagte sie so beherrscht wie möglich, „das Kind ist krank, es gehört ins Bett. Ich bringe Fräulein Johanna jetzt dorthin zurück.“
„Wagen Sie es nicht“, zischte Blanka von Rapp. Ihre Augen funkelten eisig auf Sophie herunter. Unter ihrem Blick fühlte sie sich plötzlich ganz klein, klein wie Johanna, unbedeutend, hilflos. Ein hässliches Insekt unter einem Stein, den jemand boshaft umgedreht hatte. Wie gebannt starrte sie in die zwei strahlenden Augen über sich. Ein Lächeln glitt über Blanka von Rapps Lippen. Es war voller Grausamkeit.
Sophie presste die Kiefer aufeinander.
„Doch.“ Sie stieß das Wort zwischen den Zähnen hindurch, und im gleichen Moment brach der Bann. Sie riss den Blick weg, zog Johanna mit sich hoch, trug und schleppte sie zum Bett hinüber.
„Ich werde Sie entlassen“, sagte Blanka von Rapp. Sophie half Johanna, sich auszustrecken, und drehte sich dann zu ihr um. Ihr Gesicht war wieder glatt, glatt und ebenmäßig, als wäre nichts geschehen. Aber das grausame Lächeln war noch da, lauerte in den Mundwinkeln. Sophie war zu erschöpft, um noch Furcht zu empfinden.
„Nein“, sagte sie ruhig und breitete die Decke über Johanna aus, „das werden Sie nicht. Der gnädige Herr hat mich angestellt, er ist mein Arbeitgeber. Wenn Sie deswegen mit ihm sprechen wollen, sobald er zurück ist – meinetwegen.“ Der kleine Koffer lag in ihrer Kammer unter dem Bett. Ihr kleiner Koffer, in den alles passte, was sie zum Leben brauchte. Nichts war leichter, als fortzugehen. Sie hatte es schon so viele Male getan.
Johanna sah sie vom Bett aus an, mit großen, tränenglänzenden Augen. Sie bewegte stumm die Lippen. Sophie ahnte, was sie sagten. Sie erinnerten sie. An ein Versprechen, gegeben vor endloser Zeit, unter dem stumpfen, steinernen Blick einer leblosen Prinzessin. Ja, es war leicht fortzugehen. Aber ein Versprechen ließ sich dabei nicht zurücklassen. Es würde mit einem gehen, wohin auch immer. Bis man es erfüllte.
Sie seufzte, streichelte beruhigend Johannas Wange.
„Ich könnte mir vorstellen“, sagte sie zu Frau von Rapp, ohne sich umzudrehen, „dass Ihr Gatte diesmal nicht ganz Ihrer Meinung sein wird. Wenn Sie es auch vergessen zu haben scheinen – er liebt seine Tochter, da bin ich mir sicher.“
„Er liebt sie, so. Und ich, meinen Sie, liebe sie nicht?“ Etwas bebte in Blanka von Rapps Stimme, etwas, das den harten metallischen Klang mit feinen Rissen durchzog. Stoff raschelte. Sophie wusste, ihre Herrin tastete nach dem Fläschchen im Pompadour, das leer auf dem Tisch stand. Das Rascheln verstummte wieder. Einen Augenblick lang blieb alles still. Jetzt erst hörte Sophie wieder den Wind, der unter den Dachpfannen ächzte. Er war lauter geworden.
„Vorhin“, sagte Frau von Rapp leise und ganz ohne Schärfe, „vorhin sagte ich Ihnen schon einmal, dass Sie sich irren. Sie glaubten mir nicht und glauben mir auch jetzt nicht. Und doch irren Sie sich wieder. Sie irren sich
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