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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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wiederkommen. Sie hatten ja keine andere Wahl. Sie brauchten das Geld, ihre Familien, ihre Kinder brauchten es. Und wenn sie wiederkamen – mit welcher unerwarteten, beeindruckenden Pose würde Frau von Rapp sie dieses Mal in ihre Schranken weisen? Wie seltsam er gewesen war, dieser Moment gestern, dort draußen im Schnee. Dieser harte, unnahbare Glanz, der von der Hausherrin ausgegangen war, der die Arbeiter bezwungen hatte, mit nur ein paar Worten, einer Geste. Unerwartet und beeindruckend, ja.
    Aber nicht alles davon war klug gewählt gewesen.
    „Wollen Sie vielleicht das Haus durchsuchen …?“
    Sophie strich ein Schauer das Kreuz hinunter. Oh Gott, warum hatte sie diesen einen Satz nur gesagt! Er würde die Arbeiter noch auf ungute Gedanken bringen. Wenn sie die nicht längst schon hatten. Wenn sie nicht schon Dinge planten, da oben, in der Hütte …
    Schritte polterten durch den Flur. Sophie richtete sich hastig auf und strich sich die Bluse glatt. Einen Augenblick später kam Lieschen ins Damenzimmer, blieb verdutzt stehen, als sie Sophie am Fenster sah.
    „Oh, Frollein, da sind Sie. Hat die Gnädige sich denn immer noch nicht ablösen lassen?“
    „Nein“, antwortete Sophie und nahm pflichtschuldig den Stickrahmen wieder auf. Als sie sich eben darüberbeugen wollte, blieb ihr Blick an ein paar Schneekristallen hängen, die langsam in einer Strähne über Lieschens Stirn vor sich hinschmolzen.
    „Habe einen Aschekasten draußen geleert, Frollein Sophie“, sagte Lieschen und zuckte die Achseln. „Muss öfter sein, wenn die Kachelöfen so stark ziehen wie jetzt.“
    Sophie verstand nicht allzu viel von Öfen. Man tat Holz oder Kohle hinein und bekam Wärme heraus. Sie nickte Lieschen zu.
    „Dann sieh nur zu, dass du dich wieder aufwärmst.“
    „Mach ich, Frollein“, Lieschen knickste. Sophie wandte sich der Stickarbeit zu. Nach der kleinen Kanne, die Lieschen seltsamerweise unter dem Arm trug, fragte sie gar nicht mehr. Ihre eigenen sorgenvollen Gedanken hüllten sie schnell wieder ein.

    Das Tonikum schien inzwischen gut zu wirken. Johanna lag viel ruhiger als in den Tagen zuvor, sie warf sich nicht mehr herum, murmelte nicht mehr im Schlaf. Ihr Kopf fühlte sich noch sehr warm an, aber nicht mehr glühheiß, und die fiebrige Röte in ihrem Gesicht schien allmählich zurückzugehen. Blanka nahm die Hand von ihrer Stirn und strich sich nachdenklich über die eigene Wange. Sie fühlte die Berührung kaum, aber sie wusste, dass ihre behandschuhten Finger eine Haut berührten, die weißer und glatter war als der Schnee. Das Wissen beruhigte sie. Immer schon war sie so gewesen, weiß und glatt und damenhaft. Wie die wunderbare Haut ihrer Mutter … Wie Johannas Haut sein würde, wenn sie heranwuchs, wenn sie sich von einem Kind zum Mädchen verwandelte und schließlich zu einer jungen Frau. Weiß und glatt und rein. Blanka würde dafür sorgen. Das war ihre Pflicht. Kein solches Herumtollen mehr im winterlichen Park, wo der Frost nur darauf lauerte, in die zarten Wangen zu beißen und sie so hässlich zu verfärben. Kein unbedachtes Spiel mehr auf dem Rasen im August, ohne Sonnenhut, ohne Schirm. Sommersprossen waren selbst mit Buttermilch und Bleiche so schwer zu bekämpfen. Und diese schmutzig wirkende Bräune, wie bei Bauernkindern – Bauernkinder … lachende braune Gesichter … blitzende Augen, flinke Glieder im Spiel, im Tanz … Sonnenflecken und Blätterschatten …
    Unwillig schüttelte sie den Kopf. Würde sie ihre Gedanken denn heute gar nicht unter Kontrolle bringen?
    Sie griff nach dem Fläschchen mit Tonikum, das auf dem Nachttischchen stand. Als sie es an die Lippen setzte, rann nur ein einzelner, zögernder Tropfen daraus auf ihre Zunge. Erstaunt betrachtete sie die Flasche. Hatte sie so viel daraus getrunken in der Nacht? Sie war sicher, dass sie Johanna das Tonikum immer nur in winzigen Dosen eingeflößt hatte, alle Stunde zwei Tropfen, niemals mehr. Immer, wenn sie schwach die Standuhr unten in der Halle hatte schlagen hören. Und sie selbst nahm stets einen einzigen Schluck, sie musste nicht einmal mehr darüber nachdenken, es war wie ein Mechanismus. Wie konnte die Flasche also leer sein?
    Unbehagen erfasste sie. Als Hausherrin kannte sie alle Vorratsschränke und Kammern, und sie wusste genau, was sich wo befand. Erst recht, seit sie keine Mamsell mehr hatten. Es gab immer nur eine einzige Flasche im Haus, die, die sie bei sich trug oder auf ihren Nachttisch stellte. Johann

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