Winterkind
behutsam, tastend. Aber die Blanka von Rapp, die sie heute im Kinderzimmer gesehen hatte, war nicht die Blanka von Rapp, die sie kannte.
„Warum ist sie so böse auf mich?“, hörte sie wieder Johanna fragen.
Konnte es mit dem Tonikum zusammenhängen, seinen giftigen Wirkungen, über so viele Jahre? Ratlos schüttelte Sophie den Kopf. Sie wusste es nicht. Ein Arzt hätte es herausfinden können, jemand, der an der Universität studiert und alle möglichen Fälle gründlich unter fachkundiger Anleitung untersucht hatte. Ein Arzt würde auch Johanna helfen können. Den Scharlach besiegen, den Frau von Rapp einfach verleugnete.
Johanna helfen …
Aber sie war kein Arzt.
Wieder ritzte sie der feine Stachel, den sie vorhin in ihrer Erinnerung gespürt hatte. Frauen studierten nicht. Und wenn sie ihre praktischen Examen noch so gut ablegten. Frauen wurden keine Ärzte, und auch als Lehrerinnen ließ man sie nur an die Volksschulen, niemals an die Gymnasien. Denn Frauen studierten nicht. Frauen saßen stattdessen da und warteten hilflos, bis ein Mann kam und es besser wusste.
Das Furchtbare war, dass sie sich in diesem Moment nach Anton sehnte. Sie wollte es nicht, sie verachtete sich dafür, dass sie es tat. Aber sie war zu ehrlich mit sich selbst, um zu verleugnen, dass es so war. Sie sehnte sich nach seiner kühlen, überlegten Art, nach seinem feinen Spott und seinen klaren Gedanken. Er hatte sie niemals als Frau gesehen, immer nur als eine „vernünftige Person“. Hatte sie niemals auf ihre weiblichen Schwächen gestoßen, niemals versucht, ihr den Hof zu machen, sie nie in Verlegenheit gebracht wie – ein gewisser anderer Mann. Anton hatte mit ihr geredet wie mit seinesgleichen, zumindest glaubte sie das. Anton würde sie anhören, ohne zu belächeln, was sie sagte. Er würde verstehen. Er würde einen Weg finden – einen Weg, Hilfe zu holen, die Hilfe, die sie brauchten. Und dieses Mal würde er nicht spotten.
Nein, er würde nicht spotten. Er konnte ja nicht spotten, denn er war nicht da. Er war nicht da, und Gott allein wusste, wann er zurückkommen würde.
Sophie legte die Hände flach auf das Buch. Die Seiten waren kühl und glatt unter ihrer Haut. Sie spürte das Papier, die Schwere des gesammelten Wissens auf ihrem Schoß. Draußen tanzte der Schnee, und in ihrem Kopf wirbelten die Gedanken. Sie schloss langsam die Augen. Der Schnee – kein Durchkommen für Kutschen – keine Hilfe von außen. Weißer Schnee vor dem Fenster, roter Scharlach im Kinderzimmer … Sie atmete ganz ruhig. Nur eine Frau – nur eine Frau … Ganz allein. Hilflos. Frauen. Frauen und Männer. Kein Durchkommen für Kutschen, Schnee, Schnee und Scharlach … Männer, Männer und Frauen. Ein Zwinkern. Eine Hand über einer anderen. Ein sehnsüchtiger Blick aus großen blauen Augen … Ein Arm, der ein schweres Glas ganz mühelos trug. Männer. Kraft. Schnee. Keine Kutsche. Kein Arzt. Keine Kutsche …
Sie presste die Hände auf das Buch. Langsam, ganz langsam, schien das Wirbeln sich zu ordnen. In ein seltsames, überraschendes Muster. Ein Muster, in dessen Zentrum nicht das Herrenhaus stand. Sondern die Glashütte. Die Hütte. Dunkle Gestalten, feuriger Lärm. Das große Tor, und dann – ein Karren. Ein Karren und ein altes graues Pferd. Ein Pferd. Männer, Kraft. Kein Durchkommen für eine Kutsche. Kein Durchkommen für eine Frau. Aber für einen Mann? Aber für ein Pferd? Willem … Ein Zwinkern … ein Blick … Was konnte sie tun? Was würde Anton tun? Was hatte Anton getan?
Männerdinge - Frauendinge.
Vielleicht konnte sie beides tun.
Sophie öffnete die Augen.
Ja, sie konnte es tun. Sie musste nur sehr leise sein. Sehr leise und sehr schnell.
Und sehr mutig.
Irgendwann am späten Nachmittag, als das schwache Licht schon wieder in die Dämmerung versickerte, legte Blanka den Stickrahmen beiseite. Sie lauschte nach oben, zum Dachboden hin, obwohl sie wusste, dass sie durch die dicken Böden und Decken nichts würde hören können. Sophie war dort oben, oder Lieschen, bei Johanna, die ganze Zeit, als müssten sie sie vor ihr beschützen. Vor ihrer eigenen Mutter … Sie lächelte schwach. Was spielte es schon für eine Rolle. Sie hätte sich nicht so gehen lassen dürfen, vorhin. Hätte nicht so außer sich geraten sollen. Was hatte sie so furchtbar wütend gemacht? So wütend, dass das vereiste Holz in ihr plötzlich angefangen hatte zu knistern, aufzulodern wie im Fegefeuer? Es musste Johannas Schuld gewesen
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