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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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furchtbar. Aber auch das werden Sie wohl nicht glauben. Sie können es vermutlich nicht. Kinder sind durch Ihre Hände gegangen, und ich bin sicher, Sie haben Sie alle nach bestem Wissen betreut. Aber Sie haben niemals eines geliebt. Sie haben nie empfunden, wie sich in Ihrem eigenen Leib ein winziges Wesen rührt, das Fleisch ist von Ihrem Fleisch, Seele von Ihrer Seele. Sie kennen den unendlichen Schmerz nicht, wenn man es dann von Ihnen trennt – und nicht die Seligkeit, die folgt, wenn Sie verstehen, dass Sie beide doch auf ewig miteinander verbunden sind. Sie sind eine Gouvernante, Fräulein Sophie. Keine Mutter.“
    Etwas klirrte schwach dicht hinter ihr: das Fläschchen wurde vom Tisch genommen. Dann klangen Schritte, und die Tür wurde geöffnet. Als sie sachte wieder ins Schloss fiel, sog Sophie Luft in ihre Lungen, als habe sie seit Stunden nicht geatmet.
    „Mama“, murmelte Johanna heiser in den Kissen. „Mama.“
    Sophie strich die Decken glatt.
    „Es ist gut, alles ist gut. Ich bin hier, ich kümmere mich um Sie.“
    „Mama“, flüsterte Johanna wieder. „Warum sind Sie so böse, Mama? Es tut mir so leid. Alles tut mir so leid.“
    „Sch, sprechen Sie nicht mehr. Alles ist gut, glauben Sie mir. Schlafen Sie. Schlafen Sie nur wieder ein.“
    Johanna öffnete die Augen wieder, einen Spaltbreit nur. In den schwarzen Wimpern hingen immer noch Tränen.
    „Warum ist sie so böse?“
    Sophie nahm ein Taschentuch und wischte ihr behutsam über die Augen.
    „Ich weiß es nicht“, antwortete sie.

    Sophie blieb an Johannas Bett sitzen, als das Mädchen wieder eingeschlafen war, machte Hals- und Wadenwickel und starrte in den fallenden Schnee hinaus. Sie verbot es sich, aufzustehen und nach rechts aus dem Fenster zu sehen, zur Hütte hoch; trotzdem zuckte sie bei jedem lauteren Geräusch von unten zusammen, ängstlich und gleichzeitig hoffnungsvoll. Aber niemand kam und klopfte wild und fordernd gegen die Haustür; und niemand schloss sie leise mit dem eigenen Schlüssel auf. Zeit verstrich schwerfällig wie das Ticken der Standuhr in der Halle. Nichts geschah. Nur der Wind nahm weiter zu. Und langsam, ganz allmählich, hatte Sophie das Gefühl, vor lauter hilfloser Warterei wahnsinnig zu werden.
    Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Es musste etwas geben, irgendetwas, das sie tun konnte. Sie klingelte nach Lieschen, schärfte dem Hausmädchen ein, bei Johanna zu bleiben, bis sie wieder zurück war. Dann stieg sie nach unten, in den ersten Stock, in ihr Kämmerchen, wo die griechischen Philosophen noch aufgeschlagen auf sie warteten.
    Sie schloss die Tür, klappte das Buch zu und stellte es ins Regal zurück. Keine klugen, über allem schwebenden Gedanken heute über den Zustand der Welt, das Wesen des Menschen, den Sinn der Liebe. Heute brauchte sie etwas Bodenständigeres. Sie forschte zwischen den Bänden, fand schließlich einen, quer über die anderen ins Fach geschoben, und zog ihn heraus. Gesundheitsbuch stand darauf, aber es war keines dieser verschämten Bücher mit zart kolorierten, unrealistischen Stichen, die man hysterischen jungen Müttern in die Hand gab, damit sie aufhörten, bei jeder Erkältung den Arzt zu rufen. Sie hatte es auch nicht in der Warteschule bekommen. Dort beschränkte man sich normalerweise darauf, den Frauen die immer gleichen Anweisungen so lange in die Ohren zu schreien, bis sie sie im Schlaf beherrschten. Warum und wozu sie was zu tun hatten, erklärte man ihnen nur selten.
    Ein Sammelwerk für die praktischen Heil- und Pflegeberufe lautete der Untertitel. Sophie setzte sich und legte sich das schwere Buch auf den Schoß. Ein Doktor hatte es ihr geschenkt, einer der Herren, die die Abschlussprüfung abgenommen hatten. Die Abschlussprüfung, die sie mit Höchstnoten bestanden hatte. Unauffällig, hinterher, hatte er sie im Gang zu sich gewinkt und ihr das Buch in den Arm gedrückt.
    „Nehmen Sie’s“, hatte er gemurmelt und verlegen auf seine Schuhspitzen gesehen, „das war eine ausgezeichnete Prüfung, die Sie da abgelegt haben. Wenn Sie ein Mann wären, müsste man Sie für die Aufnahme an der medizinischen Fakultät vorschlagen. Aber so …“
    Aber so. Sie hatte stumm geknickst und den Stachel nicht zu spüren versucht, und das Buch hatte von diesem Tag an in ihrem kleinen Koffer immer einen Ehrenplatz gehabt.
    Sie schlug es auf, blätterte bis zum Buchstaben S. Scarlatina, das Scharlachfieber. Mit dem Finger huschte sie die enggeschriebenen Zeilen

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