Winterkind
Frau“, sagte Sophie schließlich zögernd und drehte sich um, „ich glaube … Es ist vielleicht möglich, dass – dass Johanna Scharlach hat.“
Es schauderte sie selbst, als sie es aussprach, das Wort. Scharlach. Der rote Tod im Kinderzimmer. Und die Jodtinktur war schon zur Neige gegangen …
Blanka von Rapp schüttelte den Kopf.
„Nein, Fräulein Sophie. Ich bin sicher, dass Sie sich irren. Es geht ihr besser. Das sehen Sie doch.“
Sophie räusperte sich. „Verzeihen Sie, gnädige Frau, aber – solche Zwischenphasen gibt es beim Scharlach auch. Johanna hatte die ganze Zeit über sehr hohes Fieber und furchtbares Halsweh. Und diese Stellen da“, sie deutete auf Johannas Mund, „diese weißen Bereiche, sie haben eine ungute Form. Eine ungute, möglicherweise typische Form. Ich fürchte, dass es das ist, was man einen Milchbart nennt. Ich kann noch keine Pusteln entdecken, aber …“
„Nein“, sagte Blanka von Rapp wieder, erstaunlich ruhig. „Das Fieber ist gesunken. Ich weiß es. Ich habe die ganze Nacht bei ihr gesessen und ihr ein Fiebermittel eingegeben. Es wird ihr bald besser gehen.“
„Ein Fiebermittel? Woher …“
Sophies suchender Blick fiel auf den Tisch, auf das braune Fläschchen, das dort stand. Das Fläschchen mit dem Tonikum. Die Fowlersche Lösung.
Sophie räusperte sich wieder. „Ich – ich bin nicht sicher, ob das wirklich klug war, gnädige Frau. Solche Mittel sollten doch von einem Arzt verabreicht werden. Er kennt die richtige Dosis. Johanna ist ja immerhin noch ein Kind …“ Der Satz verblasste hilflos.
„Wollen Sie vielleicht zum Ausdruck bringen, ich wüsste nicht, was gut ist für mein eigenes Kind?“
Schärfe vibrierte in den Worten, so überraschend, dass Sophie zusammenzuckte.
„Nein – nein, natürlich nicht, aber …“ Sie wusste, sie musste sich jetzt zurückziehen, demütig den Kopf neigen. Aber in ihr regte sich Widerspruchsgeist. Johanna war ihr Schützling. Sie hatte lange Jahre in der Warteschule gelernt, wie man sich um Kinder kümmerte, auf welche Zeichen man achten musste. Es gab keinen Grund, ihr Urteil so in Frage zu stellen. Noch dazu in einem solchen Tonfall.
Sophie hob das Kinn. „Natürlich nicht, aber sicher bemerken Sie dann auch, wie apathisch das Mädchen daliegt.“
„Apathisch?“ Blanka von Rapp lachte auf einmal, ein ganz unpassendes, klingendes, funkelndes Lachen, wie über eine besonders amüsante Bemerkung, die jemand auf einem Ball zu ihr machte. Es jagte Sophie eine Gänsehaut die Arme hoch.
„Sie ist nicht apathisch, sie ruht sich nur aus. Sie ist meine Tochter. Glauben Sie, so ein bisschen Fieber zwingt mein Kind in die Knie? Schauen Sie, Sophie. Schauen Sie.“
Sie stand auf, beugte sich über das Kinderbett. Berührte sacht Johannas Wange.
„Wach auf, mein Liebling“, sagte sie leise und glasklar. „Wach auf.“
Johanna murmelte im Schlaf. Blanka von Rapp fasste ihre magere Schulter.
„Wach auf.“ Ihre Stimme wurde nicht lauter, aber etwas veränderte sich im Tonfall. Dunkler, voller. Gebieterisch. Johannas Wimpern begannen zu flattern.
„Mama“, murmelte sie und öffnete langsam die Augen.
„Ich bin hier, mein Liebling. Du darfst dich jetzt nicht länger gehen lassen. Hörst du? Es ist Zeit aufzustehen.“
„Gnädige Frau“, fuhr Sophie dazwischen, „ich glaube, das ist jetzt wirklich nicht …“
„Schweigen Sie!“ Das eisige Zischen traf sie wie eine Ohrfeige. Blanka von Rapp sah auf sie herunter, und da war keine Freundlichkeit, keine Sanftmut in ihrem Blick. Die hellen Augen strahlten kalt und fern wie Sterne. „Sie ist meine Tochter! Gehen Sie aus dem Weg!“
Sophie gehorchte, sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte. Sie wich an die Wand zurück, beobachtete mit einer Faszination, in die sich Entsetzen mischte, wie Frau von Rapp ihre Tochter im Bett aufrichtete, ihr befahl, sich hinzusetzen. Das kleine Mädchen schwankte vor und zurück. Die verschwitzten Haare standen ihm vom Kopf ab, das Nachthemd war voller blasser Flecken von den Halswickeln.
„Steh auf“, verlangte Frau von Rapp. Johannas Augen hingen an ihrem Gesicht. Sie schaffte es, die Füße auf den Boden zu setzen.
„Mama“, flüsterte sie heiser, „Mama, mir ist so schwindelig.“
„Ich weiß, das vergeht. Nimm dich jetzt zusammen, hörst du? Steh auf! Komm zu mir! Du kannst es, ich weiß, dass du es kannst.“
Sie trat ein paar Schritte zurück, und Johanna tat es wirklich: Sie stemmte sich schwerfällig vom
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