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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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sein. Johanna, die sich nicht hatte zusammenreißen, ihr nicht hatte folgen wollen, wie sie es ihr befohlen hatte. Kinder mussten ihren Eltern gehorchen. Wie hieß es doch? „Oh süßer Gehorsam, der du niemals Leid erfährst! Du bringst die Menschen, Tote, zum Leben und zum Laufen, weil du den eigenen Willen tötest; und je mehr er gestorben ist, desto schneller läuft er …“ Woher stammte das? Sie erinnerte sich nicht mehr. Aber sie wusste, dass sie es oft gehört hatte, früher. Es klang wie aus einer Predigt oder einem Andachtsbuch. In den protestantischen Kirchenschriften, die seit ihrer Hochzeit auf ihrem Nachttisch lagen, standen solche Dinge nicht. Aber redete man nicht auch bei der preußischen Armee darüber? Kadavergehorsam, so nannte man es dort wohl. Ein schauerliches Wort. Aber zutreffend. Kinder hatten keinen eigenen Willen zu haben, Mädchen ganz besonders nicht. Johanna war schon viel zu lange viel zu sehr verzogen worden. Das würde sich ändern müssen.
    Wenn nur das Tonikum nicht zur Neige gegangen wäre! Es hatte Johanna schon so gut geholfen. Wenn sie es ihr weiter geben könnte – notfalls so, dass Sophie es nicht bemerkte …
    Blanka hatte das eigenartige Gefühl, dass es dringlich war. Ein Gefühl, das sie sich nicht erklären konnte. Aber es war da, wurde allmählich stärker, und sie wusste, woher es kam: vom Fauchen und Zischen der Öfen oben auf dem Hügel. War es wirklich nur das Geräusch der Luft, die dort verschlungen wurde? Was verbrannte, damit neue, glänzende Flaschen produziert werden konnten? Batterien von Flaschen, alle gleich, alle makellos, immer mehr und mehr? Zeit … Es fühlte sich so an, als sei es die Zeit, die gierig ins Feuer gesaugt wurde. In die glühenden Schmelzöfen, ins rote Nichts, schneller und schneller. Die Glasmacher früher mussten noch davon gewusst haben – von dem geheimnisvollen Zusammenhang zwischen der Zeit und dem Glas. Die alten Kelche in der Vitrine des Speisezimmers erzählten davon: keiner wie der andere, alle vollkommen, aber alle mit einem winzigen Lufteinschluss dort, wo der Stiel in das eigentliche Glas überging. Luft, Zeit … Eine sichtbare Erinnerung waren diese Einschlüsse, an jenen einen, in Ewigkeit erstarrten Moment, in dem eine glühende, formlose, stinkende Masse sich in kristallene Reinheit verwandelte … Aber niemand interessierte sich heute mehr für so etwas. Die Hütte produzierte nur noch die gewöhnlichen Flaschen und billigen Gläser, die jeder brauchte und jeder herstellen konnte. Und die gierigen Öfen, im Dauerbetrieb, durch keine kundige Hand mehr in ihrem Hunger gebremst, fraßen jetzt in unvorstellbaren Mengen. Die Zeit fauchte und zischte dort drüben; die Zeit verbrannte, ohne dass irgendjemand es zur Kenntnis nahm. Bis keine mehr übrig war …
    Blanka fröstelte.
    Oben knarrte eine Diele, und aus den Gedanken gerissen, hob sie den Kopf. Kam die Gouvernante vom Dachboden herunter? Oder war es Lieschen? Sie lauschte, aber nichts rührte sich mehr. Keine Schritte auf der Treppe. Es kam ihr seltsam vor. Jammerte das Haus im Wind? Aber so hatte es nicht geklungen. Es waren die Dielen des Flurs im ersten Stock gewesen, sie kannte ihr Geräusch. Wer war dort oben, um diese Zeit?
    Es war vielleicht Neugier, die sie aufstehen ließ. Neugier und das unbestimmte Gefühl, dass sie wissen sollte, was in ihrem Haus vor sich ging. Sie ließ die Stickerei liegen. In der Halle tickte die Uhr, und die Treppe lag ganz verlassen da. Sie stieg die Stufen hinauf, langsam, leise.
    Im ersten Stock war niemand zu sehen. Aber eine der Türen auf der linken Seite stand halb offen, weiter hinten, wo es dann zur Mädchenstiege ging - der schmalen Wendeltreppe, die vom Erdgeschoss, bei der Hintertür, bis auf den Dachboden führte. Blanka ging darauf zu. War es eins der kleineren Gästezimmer, oder …?
    Sie öffnete die Tür ganz, ohne anzuklopfen. Sophies Schlafkammer, das erkannte sie mit einem Blick. Und es war niemand darin. Man brauchte nicht zu suchen, um das festzustellen, so klein war das Zimmer. Hatte sie es vorher überhaupt schon einmal betreten? Blanka wusste es nicht genau.
    Zögernd trat sie ein. Da war ein schmales Bett, der dunkle Überwurf sorgfältig glatt gestrichen. Eine Kommode mit schmucklosen Griffen. Ein Waschtisch mit Krug und Schüssel aus billigem, dicken Porzellan, beides sauber ausgeleert und getrocknet. Und am Fenster ein kleiner Tisch, nicht größer als ein ausgebreitetes Taschentuch, und ein Stuhl

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