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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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dazu, einer der ausgedienten Esszimmerstühle, die im vorletzten Jahr gegen eine neue Kollektion ausgetauscht worden waren .
    Nichts anderes als das, was man erwarten würde. Aber über der Kommode hing ein Regal an der Wand, und es lagen keine Schleifen darin oder Schmuckdöschen oder Puderblättchen. Das Regal war voller Bücher. Richtige Bücher, keine Hefte wie das Töchteralbum oder die Gartenlaube mit ihren unzähligen Nummern. Sie sahen aus, als gehörten sie eher in das Arbeitszimmer eines Mannes als in eine Frauenkammer.
    Auch auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch. Hatte die Gouvernante eben hier noch gesessen und gelesen? Aber das Licht war schon so schwach …
    Blanka stellte sich neben den Tisch. Nein, man konnte die Buchstaben gerade noch erkennen. Was war es, ein Fachbuch für Erziehungsfragen? Sie bückte sich, ließ die Augen über die Zeilen gleiten. Aber was sie sah, schien mit Erziehung nichts zu tun zu haben.
    Etwas wie ein kleiner elektrischer Schlag fuhr durch sie hindurch.

    „Fowler’s Solution.
    1%ige Lösung von Kaliumarsenit KAsO 2 , gewonnen durch Auflösung des Diarsentrioxids As 2 O 3 oder Arseniks in Wasser und Vermischung mit Kalilauge für bessere weitere Löslichkeit. Versetzt mit Lavendelwasser für einen angenehmen Geschmack.“

    Funken schienen in der Luft zu knistern, ihre Haare hinauf, bis eine Gänsehaut ihren Körper überlief. Sie las es noch einmal, halblaut.
    „Auflösung des Di – Diarsen …“ Sie konnte das Wort nicht aussprechen, hatte es noch nie in ihrem Leben gehört. Aber das, was folgte. Es war noch gar nicht lange her. „Auflösung des … Arseniks in Wasser …“
    Es war ein Rezept. Ein Rezept für die Herstellung ihres Tonikums.

    Mit angehaltenem Atem, gegen die Wand gepresst, stand Sophie hinter der Tür von Blankas Schlafzimmer. Sie lauschte, lauschte auf die Schritte – die Schritte, die aus ihrem eigenen Zimmer klangen. Wer, um alles in der Welt, hatte dort etwas zu suchen? Dann war es plötzlich still, und eine endlose Zeit verging, bis die Schritte wieder aus ihrem Zimmer kamen, viel schneller als zuvor, bis sie über den Flur gelaufen waren und schließlich die Vordertreppe hinunter. Zitternd atmete sie aus. Der blasse Edelstein, den sie in der Hand gehalten hatte, fiel ihr dabei fast herunter. Sie fing ihn noch, gerade rechtzeitig, und der große Spiegel neben Blanka von Rapps Bett gab ihr die Bewegung als schwaches Flirren zurück. Ihre Knie waren weich. Wenn sie hier entdeckt worden wäre … Sie durfte nicht einmal daran denken. Die Schritte hatten nicht nach Lieschen geklungen.
    „Oh Gott“, flüsterte Sophie, aus schierer Erleichterung. Mit bebenden Fingern steckte sie eine lange Hutnadel wieder in den Mantelaufschlag zurück. Wie gut, dass sie ihn schon vorher angezogen hatte! Und wie gut, wie unendlich gut, dass die Schritte abgelenkt worden waren, von was auch immer.
    Sie holte das große rotkarierte Taschentuch heraus, das Willem ihr gegeben hatte, legte den Edelstein in die Mitte und wickelte ihn sorgfältig ein, bevor sie beides in die Manteltasche steckte. Ihr Gewissen stach sie heftig, als ihr Blick dabei wieder in den Spiegel fiel.
    So sieht also eine Diebin aus, dachte es in ihr, und sie musste sich schnell abwenden. Es half ja nichts. Sie hatte sich entschieden. Sie musste Johanna helfen. Johanna beschützen. Und nur ein einziger Weg war ihr eingefallen, ihr Versprechen zu halten.
    Sie schlich sich aus dem Schlafzimmer, auf Zehenspitzen über den Flur. Nach hinten, zur Mädchenstiege. Und zur Hintertür.

    Draußen war es windig, sehr kalt und schon beinahe dunkel. Sophies Herz klopfte, als sie den Weg zur Vorderseite des Hauses entlanghuschte – zur Straße, die nach oben führte. Der Wind zischte in ihren Ohren, die Flocken umtanzten sie, als wollten sie sie vor neugierigen Blicken verbergen. Auf dem Boden türmte der Schnee sich schon wadenhoch, und darunter war er so glatt und hart, dass sie immer wieder ausrutschte. Sie schlitterte auf der Straße, kämpfte sich mühsam die Steigung hoch, auf das unterschwellige Dröhnen der Hütte zu. Der Schnee vor ihren Stiefeln verfärbte sich schwach rötlich. Also brannten sie dort immer noch, die Fackeln … Sie biss sich auf die Unterlippe, senkte den Kopf gegen den Wind, zwang sich, weiterzugehen.
    „Hoho, wen haben wir denn da?“
    Der Platz vor der Hütte war voller Männer, sie lief beinahe in sie hinein. Plötzlich war sie umgeben von dunklen Gestalten, von rotem Licht

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