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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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eindringliche Stimme in ihr. Du bist Johannas wegen gekommen. Und eine noch leisere Stimme fragte: Und was ist eigentlich mit Lieschen?
    Sie schaffte es, den Kopf ein klein wenig zur Seite zu drehen, als er sich wieder über sie beugen wollte.
    „Das war es nicht – nicht direkt, worum ich Sie … dich … bitten wollte …“
    „Nein? Wie schade. Und wie gut, dass ich es nicht gleich wusste. Nich?“ Er strahlte sie an, so heiter und so siegessicher wie ein junger griechischer Gott. Sie wollte ihm so gerne nachgeben. Nur mit innerem Zwang gelang es ihr, die Hände gegen seine Brust zu drücken, sodass er ein paar Zentimeter zurückweichen musste.
    „Es ist etwas sehr Wichtiges. Du musst mich bitte anhören.“
    Er runzelte die Stirn. Sie versuchte, charmant mit den Wimpern zu flattern und bekam dabei Schneeflocken in die Augen. Er wischte sie vorsichtig mit dem Daumen weg.
    „Es geht um Johanna.“ Sie holte tief Luft. „Das kranke kleine Fräulein im Herrenhaus. Es geht ihr sehr schlecht. Die Herrin glaubt es zwar nicht, aber ich meine, dass Johanna Scharlach haben könnte. Ich wollte dich bitten, ob …“
    „Scharlach?“ Er fuhr von ihr zurück, als habe sie ihn mit einer Nadel gestochen. Ihre Arme fielen herab. Plötzlich spürte sie den eisigen Wind wieder.
    „Keine Sorge“, sie lächelte beruhigend und, wie sie hoffte, süß, „ich war immer sehr vorsichtig mit ihr. Ich habe mich sicher nicht angesteckt. Aber sie – du weißt, wie gefährlich Scharlach ist. Wir brauchen einen Arzt, so dringend wie nur möglich. Wer weiß, wann der Herr bei diesem Wetter endlich zurückkommen kann? Eine Kutsche schafft es nicht bei diesem Schneefall. Aber ein einzelner Mann auf einem Pferd könnte …“
    „Watt?“ Er starrte sie an. „Watt?!“
    Etwas sackte in ihr zusammen. Verzweifelt bemühte sie sich, es nicht zu bemerken.
    „Ich weiß“, sagte sie hastig, „ich weiß, ihr seid alle sehr wütend, wegen des Lohns … Ich verstehe das, und ich habe – ich habe …“ Sie fummelte in der Manteltasche herum, bekam den Stein nicht heraus.
    „Lohn?“, fuhr er dazwischen, „Lohn? Du denkst wohl, darum geht es mir, watt? Und wenn du mir jetzt irgendein Tüdelkram von dir gibst, stürz ich mich deinetwegen in dieses verdammte Schneetreiben und bring mich um? Herrgott! Düwel ook!“
    „Nein“, flehte sie und zerrte an dem Taschentuch, „nein, natürlich nicht! Aber die Hütte hat doch ein Pferd, oder nicht? Und du bist ein Mann vom Land, du kannst sicher wenigstens etwas reiten. Genug, um bis nach Osterwald zu kommen. Es gibt dort einen Doktor, und es ist gar nicht weit, vielleicht eine Stunde!“
    So lange hatte sie darüber nachgedacht, hatte Entfernungen geschätzt, gerechnet, überlegt. Aber er sah sie nur kalt an, verständnislos. Sie hätte genauso gut Chinesisch mit ihm sprechen können.
    „Ach so“, sagte er nur, „und in einer Stunde kann man nicht erfrieren oder wie? Ich bin ein wichtiger Mann in der Hütte, Fräulein Sophie . Ich riskier doch nicht mein Fell! Schon gar nicht jetzt, wo wir genug Probleme haben. Das Herrenhaus muss sich um sich selber kümmern. Das tut es sonst doch auch.“
    Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie schluckte, presste die Lippen aufeinander. Nur nicht weinen. Nur nicht jetzt vor ihm auch noch weinen.
    Er verschränkte die Arme vor der Brust, missverstand ihre Geste vielleicht. „Das war also alles nur Lug und Trug, ja? Nur ein schlauer Plan, um mich rumzukriegen?“ Sie öffnete den Mund, aber er drehte den Kopf zur Seite. „Na, was kann man auch anderes erwarten von einer aus dem Herrenhaus.“
    „Der Betrüger sieht immer selbst überall Betrug.“ Es war ihr herausgerutscht, sie hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Er starrte sie an, lange, wortlos.
    „Fein“, sagte er endlich irgendwann. „Fein, fein. Dann sieh man zu, wie du zurechtkommst. Und unseren Lohn“, ein Funkeln trat in seine Augen, die plötzlich scharf und lauernd aussahen, wie bei einem gefährlichen Tier, „unseren Lohn bekommen wir schon, so oder so.“
    Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ließ sie stehen.

    Die Tränen ließen sich nicht mehr zurückhalten. Sie schluchzte auf, spürte die Feuchtigkeit ihre Wangen herunterlaufen. Presste sich den Mantelärmel gegen das Gesicht und wühlte mit der freien Hand weiter in der Tasche herum. Dieser verfluchte, verfluchte Stein! Ihr eigenes Taschentuch steckte gerade darunter. Um nichts in der Welt hätte sie sich ihre Tränen

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