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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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Hand, überlegte Johanna einen Augenblick lang, ob sie nicht nach der Gouvernante rufen sollte. Aber die Mutter und Sophie hatten sich gestritten. Sie waren nicht miteinander d’accord , wie es bei den Erwachsenen hieß. Es würde die Mutter zornig machen, sehr zornig. Und selbst, wenn sie sich getraut hätte, trotzdem zu rufen: Ihre Stimme war immer noch so geschwächt und heiser, niemand hätte sie im nächsten Stock gehört.
    Johanna blieb still sitzen. Die Mutter nahm den Apfel in die freie Hand.
    „Ich schneide ihn für uns auf.“
    Aber sie tat es nicht. Die kleine Falte sprang wieder in ihre Stirn, sie sah auf einmal verwirrt aus, schaute vom Apfel zum Messer, vom Messer zum Apfel – und auf die Handschuhe, in denen sie beides hielt. Johanna verstand, dass sie sich fragte, wie sie den Apfel schneiden sollte. Wenn sie die Handschuhe anbehielt, würde der Saft Flecken darauf machen. Wenn sie sie auszog – undenkbar! Johanna hatte ihre Mutter niemals ohne Handschuhe gesehen. Nicht einmal auf Bildern. Und sie hatte irgendwann Lieschen mit Erna tuscheln gehört, dass sie sie sogar zum Schlafen nicht auszog.
    Aber sie tat es jetzt. Sie legte Apfel und Messer hin, fing an, leise zu summen, ein altes Wiegenlied, dessen Melodie Johanna vage erkannte, und dabei öffnete sie langsam die Knöpfe am Saum des rechten Handschuhs.
    „ Silber, Gold und Edelsteine “, summte die Mutter. Ihre Stimme zitterte, ganz schwach. „ Schönster Schatz, und du bist mein .“
    Sie schob den Handschuh über das Gelenk nach unten. Johanna beobachtete sie gebannt.
    „Du bist mein / ich bin dein …“
    Das Wiegenlied umfing Johanna wie eine vertraute Umarmung. Ganz von selbst öffnete sie den Mund und sang die letzte Zeile heiser, krächzend, mit der Mutter zusammen:
    „Sag, was könnte schöner sein.“
    Der Handschuh lag jetzt auf dem Tisch. Die Mutter blickte auf und lächelte sie an, und für einen Moment schimmerten lebendige Tränen in den Glasaugen. Johanna sah es, aber sie sah auch noch etwas anderes. Etwas, das sie mit Eisesfingern anfasste.
    „Was – was ist das?“, fragte sie, und noch in der Frage fingen ihre Lippen an zu zittern. Sie deutete auf die weiße, bloße rechte Hand, die nach dem Apfel griff und sich in der Bewegung umdrehte.
    Flügel schlugen, irgendwo in ihrem Kopf.
    „Was ist das?“, fragte sie noch einmal, lauter, mit flatternder Stimme.
    Die Mutter kniff die Lippen zusammen. Der warme Schimmer verschwand aus ihren Augen.
    „Nichts. Es ist nichts. Nur ein – nur ein Hautproblem. Ich ziehe den Handschuh darüber, und dann sieht man nichts mehr. Dann ist es nicht mehr da.“
    Der Apfel verdeckte jetzt fast die ganze Handfläche, aber Johanna konnte nicht aufhören, daraufzustarren. Auf das, was immer noch sichtbar war.
    Flecken. Dunkle Flecken auf der blassen Haut. Unregelmäßige, an den Rändern zerfranste Flecken. Wie böse kleine Tiere, wie Spinnen ohne Beine, die unter dem Handschuh im Verborgenen gehockt hatten.
    Die Flügel schlugen heftiger. Das Geräusch hallte wider, irgendwo in einem steinernen Labyrinth …
    „Es ist so hässlich“, sagte Johanna, ohne es zu wollen.
    Der Apfel fiel polternd auf den Tisch.

    Auf dem Bett in ihrer Kammer blinzelte Sophie. War da ein Geräusch gewesen, über ihr? Sie lauschte, aber es wiederholte sich nicht. Alles blieb still, bis auf das Fauchen des Windes an den Simsen. Ein Ast, vielleicht, draußen, ein gefrorener Zweig, der brach und zersprang … Es wurde schon wieder dunkel hinter dem Fenster. War es heute überhaupt wirklich hell geworden? Sie musste sich ausruhen, nur ein wenig. Nur eine Minute noch oder zwei …

    Johanna presste den Rücken gegen das Bettgestell. „Entschuldigen Sie, das wollte ich nicht sagen! Es tut mir leid!“
    Die Mutter stieß zischend den Atem aus. „Und damit, denkst du, ist alles ungeschehen gemacht?“
    Die linke Hand wand sich um die rechte, als versuche sie, sie vor Johannas Blicken zu verstecken. Aber die Flecken sahen immer wieder hervor, die hässlichen, bösen dunklen Flecken, und die Haut, die sie umgab, war seltsam schuppig. Als finge sie an, sich langsam abzulösen, auseinanderzufallen.
    Unter der Decke zog Johanna die Knie an, so eng, wie sie konnte. Und hörte die Stimme aus dem Traum zischen: Bist du jetzt denn nicht mehr neugierig?
    „Was starrst du so!“, fuhr die Mutter sie an. Johannas Zehen krallten sich in die Matratze. „Benimmt sich so ein gut erzogenes Mädchen? Wie ein Gossenkind starrst du. Wo

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