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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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nicht, wie es gekommen war. Nur, dass ihre Lippen sich plötzlich schüchtern berührten, und dass es sich anfühlte wie Sommer und Frühling zusammen, das spürten sie, aber sie sprachen es nicht aus. Dieses Mal weinte das Mädchen, als der junge Mann es wieder verließ.
    „Alles ist nur grau und kalt, wenn Sie nicht bei mir sind. Nun ist es schon Herbst, und vielleicht schneit es, wenn Sie das nächste Mal kommen. Wie sollen wir uns dann im Wald noch miteinander treffen?“
    Der junge Mann nahm das Mädchen bei den Händen und küsste es, bis seine Tränen getrocknet waren. Eine andere Antwort wusste er nicht. Es gab auch keine; und das wussten sie beide.

    Und grausam schnell rauschte der Herbst vorbei in seinen bunten Farben, seinen Nebelschleiern, die sich auf die Baumwipfel legten, bis die Zweige kahl geworden waren. Ein Morgen kam, klar und kalt, und der Wald und das Schloss und die Wiesen und Felder waren mit dem ersten Schnee bedeckt. Sie trafen sich wieder, in dicke Pelzmäntel gehüllt; der Schnee knirschte leise unter ihren Füßen, als sie sich auf einer Lichtung tief im Wald an den kalten Händen fassten.
    Vielleicht standen sie enger beisammen, als sie es sonst taten, weil sie so froren, und vielleicht geschah es deshalb, dass, irgendwann, seine Arme sich um das Mädchen legten und ihre Körper unter den Mänteln einander sacht zum ersten Mal berührten.
    Das Mädchen schloss die Augen. Sie standen ganz still und atmeten kaum.
    „Mach die Augen auf, Liebste“, bat der junge Mann. Ein ganz neuer Ton war in seiner Stimme. Er brachte etwas in dem Mädchen zum Zittern.
    „Ich kann nicht“, flüsterte es, „ich fürchte mich so sehr …“

Sieben
    Die Stunden trieben an Johanna vorbei. War es Tag, war es Nacht? Das Licht ging und kam und ging. Manchmal, wenn sie blinzelte, konnte sie das Fenster erkennen, die Wolken dahinter, manchmal nicht. Aber immer beugte sich dann Sophie über sie, Sophie oder ab und an Lieschen, lächelte sie an und strich ihr über die Haare. Und sie ließ sich zurücksinken in die seltsame verschwommene Wärme, in der nichts irgendeine Bedeutung zu haben schien.
    Sie hatte die Kirchenglocken aus dem Dorf gehört, ganz schwach, einmal und dann noch einmal. Es musste Sonntag sein, und sie hatten den Gottesdienst versäumt. Aber das machte nichts, nichts machte irgendetwas. Nur das Bett war wichtig, ihr warmes, weiches Bett, und Sophie, die über ihr wachte.
    Johanna wusste, dass sie krank war, aber so fühlte es sich nicht an. Nicht mehr, seit die schreckliche Hitze nachgelassen hatte, die ihr die Haut von innen verbrannt hatte. Auch übel wurde ihr nicht mehr. Sie schwebte in einem Traum, einem freundlichen, verwischten Traum, eigenartig, aber nicht beunruhigend. Und wenn andere Träume sich hineindrängen wollten – andere, böse Träume – dann strich Sophie ihr über die Haare und weckte sie auf, und das Böse verging wie Rauch über dem Schornstein. Johanna fühlte, dass sie noch lange so liegen könnte, warm und geborgen, wie ein kleines Tier in seiner Höhle unter dem Schnee. Vielleicht, bis der Winter vorbei war und die Frühlingssonne ihr Gesicht durch das Fenster kitzelte.
    „Wach auf“, flüsterte eine Stimme in ihren Traum hinein. „Johanna, wach auf. Wir haben nicht viel Zeit.“
    Zeit? Hatte sie ihn schon verschlafen, den Frühling? Aber die Stimme klang nicht nach Sonne und jungem Gras und duftender Erde. Sie klang wie der endlose Schnee draußen, sanft und eiseskalt. Johannas Augenlider gehorchten der Stimme von allein, wie sie es schon einmal getan hatten. Ihre Wimpern fingen an zu flattern, grau und verschwommen tauchte das Kinderzimmer um sie her auf; und da war eine Gestalt auf dem Stühlchen neben ihrem Bett, und es war nicht Sophie.
    „Johanna, mein Kind“, sagte ihre Mutter.
    Der warme Traum zerplatzte. Johanna erschrak und vergrub sich unwillkürlich tiefer unter den Decken.
    „Ich bin ganz brav“, flüsterte sie heiser, „ganz brav, nicht schimpfen!“
    „Ich bin nicht gekommen, um mit dir zu schimpfen. Hab keine Angst. Ich war streng mit dir, ich weiß. Aber ich will dir nur helfen.“
    Ihre Mutter stellte etwas auf das Tischchen neben dem Bett. Es war die kleine braune Flasche, aus der sie ihr zu trinken gegeben hatte, viele Male. Mutters kleine braune Flasche. Sie schraubte sie vorsichtig auf, und der Duft von Lavendel stieg auf, schwer wie Nebel. Sofort wurde es Johanna wieder übel.
    „Lieber – lieber nicht“, murmelte sie

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