Winterkind
dem Schmerz, der Angst, der Erschöpfung, war noch ein kleiner Platz übrig, an dem sie darüber staunte, wie seltsam es sich anfühlte. Wie breit und stark seine Hand war – und wie verletzlich. Behutsam, mit winzigen Bewegungen, löste sie seine Finger vom Rahmen, einen nach dem anderen.
„Ich fühl mich wie ein Mörder“, flüsterte er.
„Ja“, antwortete sie. „Ich auch. Aber wir können …“
Sie stockte. Das Winterlicht draußen war schon fast ganz verschwunden. Die Welt hüllte sich in graue, schneefleckige Schleier, die immer dunkler wurden und sich mit dem Rauch vermischten, der aus der Hütte quoll. Aber etwas dort unten im Park – etwas bewegte sich. Etwas, das noch dunkler war als der Rauch. Sophies Herz tat einen schmerzhaften Sprung.
„Marek“, hauchte sie. „Marek, sehen Sie, da drüben!“
Blanka hielt Johanna gegen die Brust gepresst. Ihre Arme waren bleischwer. Um nichts in der Welt hätte sie das Mädchen losgelassen. Aber sie spürte, wie sie anfing zu schwanken, gerade in dem Augenblick, als Sophie um die Hausecke herum auf sie zugestürzt kam.
„Johanna!“, schrie Sophie, „oh mein Gott, Johanna! Geht es ihr gut? Was ist passiert? Oh Gott, geht es ihr gut?!“
Blanka umklammerte Johanna. Sophie griff mit zu, stützte das Mädchen von unten, starrte ihm aufgelöst ins Gesicht.
„Sie lebt! Sie lebt!“
„Ja“, sagte Blanka leise, „aber ihr ist sehr kalt. Ich muss sie ins Haus bringen. Ich muss …“
Sie wankte, für einen Moment wurde ihr schwarz vor den Augen. Eine tiefe, heisere Stimme sagte:
„Gebense mir das kleine Frolleinchen, Gnädigste. Bevorse hier noch umfalln.“
Hinter Sophie kam Marek zum Vorschein, streckte die Arme aus, gerade in dem Augenblick, als Johanna endgültig zu fallen drohte. Er fing sie vorsichtig auf. Sie murmelte irgendetwas an seiner Brust.
„Sie muss in ihr Bett“, sagte Blanka. Sophie schlug die Hand vor den Mund.
„Nein! Nein, nicht dahin!“
Blanka runzelte verwirrt die Stirn.
„Die Fenster“, sagte Marek, während er Johanna zum Hauseingang trug. „Auf dieser Hausseite sind alle hinüber.“
„Ah, ja …“ Blankas Blick schweifte über das Haus, und über Marek und Sophie. Alles sah so anders aus … Gardinen hingen aus leeren Fensteröffnungen. Sophies Kleid war zerrissen, die Haare standen ihr vom Kopf ab. Rauchgeruch erfüllte die Luft – hatte sie ihn vorher auch schon gerochen? Es fühlte sich an, als sei sie gerade erst von einer langen Reise zurückgekehrt. Alles war fremd und seltsam unwirklich. Aber Johanna – Johanna war bei ihr. Das war das Einzige, was wichtig war.
„Wir bringen sie in Ihr Schlafzimmer, gnädige Frau“, sagte Sophie.
Das Erste, was Blanka sah, als sie durch die Tür trat, war der Spiegel. Er fing ihren Blick auf, gleichgültig, unbewegt. Schaute dabei zu, wie Marek Johanna auf das Bett sinken ließ, wie Sophie sie zudeckte. Das Licht der kleinen Lampe, die Sophie dann anzündete, glänzte auf seiner makellosen Oberfläche.
Du, dachte Blanka und ging auf ihn zu. Ihre Fäuste ballten sich von selbst. Du!
Aber der Spiegel schwieg. Und sie sah nichts weiter darin als das Zimmer und die Menschen und sich selbst, im tropfnassen Kleid, mit Schnee in den Haaren.
Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte.
Marek zog die Decke über Johanna zurecht. Blanka ließ sich auf die Bettkante sinken, streichelte über den wirren Lockenkopf. Müde öffnete Johanna ein Auge.
„Ist jetzt alles gut, Mama?“, fragte sie schwach.
„Ja, mein Liebling“, sagte Blanka, und der Spiegel schwieg noch immer. „Ja, meine Kleine“, und ein Lächeln stahl sich in ihre Mundwinkel. Johanna schloss zufrieden das Auge und rollte sich unter der Decke zusammen.
„Es gab eine Explosion in der Hütte“, sagte Sophie leise, damit Johanna es nicht hörte. „Haben Sie denn nichts mitbekommen? Alles ist zerstört da drüben.“
Verwirrt runzelte Blanka die Stirn. „Doch, ich glaube … Ich habe mir den Kopf gestoßen, wissen Sie.“
Jetzt lächelte Sophie, vorsichtig noch, aber ehrlich. „Ich sehe es, gnädige Frau. Ich versorge die Wunde nachher.“
„Das ist nicht wichtig“, sagte Blanka fest. „Aber, in der Hütte … Gab es Verletzte? Ist es sehr schlimm?“
„Ja“, sagte Sophie nur und wandte sich ab.
Blanka atmete tief ein.
„Wir werden uns darum kümmern.“ Sie schaute zu Marek auf, der sich an die Tür zurückgezogen hatte. „Hören Sie? Ich verspreche es Ihnen. So schnell wie möglich.
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