Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Mila und ihren Freund Erik Schuk, wie sie als »Arbeiter und Kolchosbäuerin« posierten, eine klassische Statue der sowjetischen Jugend von 1937. Er hält einen Hammer hoch, sie eine Sichel, und sie stehen Rücken an Rücken in gestellt heroischer Pose. Ein anderes Foto zeigt die jungen Bibliothekare in einer Parodie von Rodins Skulptur Die Bürger von Calais , in einer Reihe stehend, die Köpfe tragikomisch gesenkt. Die liberale Atmosphäre in der Bibliothek erlaubte es Mila, mit den älteren Wissenschaftlern hitzige Debatten darüber zu führen, ob die Sowjetmacht noch zu ihren Lebzeiten zusammenbrechen würde. Mila argumentierte, das würde sie; Professor Faigin, ein Spezialist auf dem Gebiet Peters des Großen, behauptete, sie würde Jahrhunderte überdauern. »Die russische Sau lag 300 Jahre lang auf einer Seite«, scherzte der rüstige alte Professor. »Nun hat sie sich auf die andere Seite gewälzt und wird dort weitere 300 Jahre liegen bleiben.«
Am 19. Oktober 1964 ging Mila mit zwei neuen Freundinnen die zurückkehrenden Kosmonauten Wladimir Komarow, Konstantin Feoktistow und Boris Jegorow begrüßen. Sie waren ins All geflogen, als Nikita Chruschtschow noch an der Macht war; als sie zurück auf die Erde kamen, war er stillschweigend durch einen Coup des Politbüros entfernt und durch Leonid Breschnew ersetzt worden. Für die breite sowjetische Öffentlichkeit vollzog sich der Übergang kaum spürbar, doch für den Fall meiner Eltern verhieß Breschnews härtere Linie nichts Gutes.
Mila und ihre Freundinnen winkten wie wild, als die Kosmonauten im feinen Nieselregen in einem offenen Wagen die Gorkistraße hinunterfuhren. Dann gingen sie in ein überfülltes Café und redeten bis zum Abend.
Trotz ihrer neuen Anstellung und der Unterstützung ihrer Freunde ließ sie der Schmerz der Trennung nicht los. »Ich hoffe so sehr, dass unsere Liebe nicht stirbt, ich will so sehr mit Dir zusammen sein, dass es mir scheint, wenn ich wählen müsste, würde ich lieber sterben, als nie wieder mit Dir zusammen zu sein. Ehrlich!«, schrieb Mila allein in ihrem Zimmer an einem Herbstabend. »Ich vermisse Dich. Ich leide schrecklich. Ich kann nichts und niemanden sehen oder anhören. Ich will die ganze Welt anschreien vor Liebe, vor Verzweiflung angesichts eines so grausamen und ungerechten Schicksals!«
Als ich die Briefe meiner Eltern vor dem Feuer der Datscha las, in der ich mit der Frau wohnte, die nun meine Frau ist, überkam mich ein seltsames Gefühl. Als Xenia auf dem Sofa saß und die schwer zu lesende kursive Handschrift vorlas, während ich mir, auf dem Boden sitzend, Notizen dazu machte, konnte ich das furchtbare Gefühl nicht loswerden, dass beide Eltern tot und für mich verloren waren. Ihre Stimmen waren so fern, die Einzelheiten ihres intimen Lebens und Leidens so berührend, dass es mir vorkam, als wühlte ich in Leben herum, die bereits gelebt und verschwunden waren. Die Kraft der Briefe lag mindestens so sehr in dem, was sie nicht sagten, wie in dem, was sie sagten. Ich schaffte es nicht, den Bann zu brechen, selbst dann nicht, als ich meine Mutter anrief und ihre vertraute Stimme am Telefon hörte. Wir sprachen über beruhigende Banalitäten, und ich konnte mich nicht überwinden, ihr zu sagen, was ich fühlte – dass ich von Liebe und Bewunderung überwältigt war. Und von Sorge, weil ich wusste, dass meine Eltern zwar irgendwann wieder vereint waren, ihre unausgesprochene Überzeugung, dass sie ihre traumatische Kindheit durch außerordentliche Opfer und Anstrengungen im Namen der Liebe ausradieren könnten, sich jedoch nicht bewahrheiten sollte.
»Ich will Dir so sehr mitteilen, was ich fühle, Dir von meiner unendlichen, tiefen, warmen und ewig traurigen Liebe zu Dir erzählen«, schrieb meine Mutter. »Meine Briefe erscheinen mir nüchtern, weil es unmöglich ist, mit Worten auszudrücken, was geschieht – etwas Wunderbares und zugleich Schreckliches. Es ist hell und schön, verursacht aber brennenden Schmerz.«
Der Winter brach über Moskau herein und später, weniger brachial, auch über Oxford. Mervyn schrieb weiter an jeden, von dem er glaubte, er könne helfen. Aber es wurde deutlich, dass es keine schnelle Lösung geben würde. Er und Mila telefonierten weiterhin alle zwei Wochen zehn Minuten miteinander, zu einem horrenden Preis. Sie vereinbarten, sich mit dem Anrufen abzuwechseln – Mila zahlte 1,40 Rubel pro Minute, nachdem sie einen Wust aus Formularen und Bankbelegen
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