Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
ausgefüllt hatte, um im Zentralen Telegrafenamt in der Gorkistraße einen Anruf zu buchen. Jeder Anruf kostete 15,70 Rubel, ein beträchtlicher Anteil ihres Monatslohns von 80 Rubeln. Doch Mila war es jede Kopeke wert. Sie bereitete sich auf ihr telefonisches Rendezvous mit Mervyn im Telegrafenamt jedes Mal so sorgfältig vor, als wäre er selbst dort anstelle seiner fernen Stimme in der knackenden Leitung. Sie achtete darauf, keine Schuhe zu tragen, die er nicht mochte. Sie bat ihre Cousine Nadja, ihr das Haar zu einem Beehive hochzustecken, zog ihren neuen Regenmantel an und nahm ihre neue Handtasche mit. Dieses Bild meiner Mutter ist es, das mich am stärksten überkommt, wenn ich an die Briefe denke: Ihre kleine hinkende Gestalt in bester Kleidung und mit sorgfältig frisiertem Haar geht allein zur Trolleybushaltestelle am Gogolboulevard, stolz darauf, auf dem Weg zu einem Rendezvous mit einem wunderschönen Mann zu sein, der nur ihr gehört.
In der Zeit, die ihm neben seinem Kampf um Mila blieb, hatte Mervyn sein erstes Buch vollendet, eine soziologische Arbeit über die Jugend in der Sowjetunion. Er hatte seit 1958 immer wieder daran gearbeitet, und nun waren die Druckfahnen fertig für die letzten Korrekturen. Die Arbeit, so hoffte Mervyn, würde seiner stagnierenden akademischen Laufbahn neuen Schwung verleihen und der Schlüssel zu dem permanenten Collegestipendium sein, nach dem er sich schon sein ganzes Erwachsenenleben lang sehnte. Doch nun, als die Schlachtlinien für den Zermürbungskrieg aufgestellt waren, hatte er Bedenken. Würde das Buch, so harmlos es auch war, die Sowjets möglicherweise kränken und seine Chancen, Mila herauszuholen, schmälern?
Nach wochenlangen Qualen beschloss er, es nicht zu riskieren. Mervyn rief bei Oxford University Press an und verlangte, das Buch aus der Verlagsvorschau zu nehmen. Der Verlag und das St Anthony’s reagierten mit Bestürzung. Es war ein unglaubliches Opfer, und Mervyn wusste wahrscheinlich damals schon, dass er seinen Chancen auf akademischen Erfolg irreparablen Schaden zufügte. »In einer Hinsicht ist es gut«, schrieb er Mila, als er ihr von seinem Entschluss erzählte. »Aber so viel Anstrengung, so viel Nervenkraft, alles umsonst …« Als ich mein eigenes Buch nach fünf Jahren vollende, erscheint mir das Opfer meines Vaters unvorstellbar groß. Noch Wochen später konnte Mervyn kaum glauben, was er da getan hatte.
Am 26. April 1965 wurde Gerald Brooke, ein junger Dozent, den Mervyn kennengelernt hatte, als sie beide Austauschstudenten an der Staatlichen Universität Moskau waren, vom KGB verhaftet. Er wurde in der Moskauer Wohnung eines Agenten des Volksarbeitsbundes der russischen Solidaristen (NTS) festgenommen, einer kleinen und glücklosen, vom CIA unterstützten antisowjetischen Organisation. Wie sich später herausstellte, war der NTS so hoffnungslos kompromittiert, dass ihm fast ebenso viele sowjetische Informanten wie irregeleitete echte Agitatoren angehörten. Brooke wurde verhaftet, als er Propagandaflugblätter an zwei unglückselige NTS-Agenten übergeben wollte, die selbst wenige Tage zuvor verhaftet worden waren. Als Brooke in ihre Wohnung kam, wartete bereits der KGB.
»Diese Briefe habe ich mit dem Blut meines Herzens geschrieben.« Mila an Mervyn, 1963.
Der NTS hatte einmal in Oxford versucht, Mervyn anzuwerben. Georgy Miller, ein russischer Einwanderer mittleren Alters, wollte meinen Vater dazu überreden, einen Stapel Dokumente an eine Kontaktperson in Moskau zu übergeben. Mein Vater hatte klugerweise abgelehnt. Offenbar hatte Miller bei Brooke mehr Erfolg gehabt. Aber es war knapp gewesen. Das, dachte Mervyn, als er die Nachricht von Brookes Verhaftung las, hätte genauso gut ich sein können.
Brooke wurde wegen antisowejtischer Agitation vor Gericht gestellt und zu fünf Jahren Haft verurteilt. Die sowjetische Presse nutzte den Fall, um eine antiwestliche Kampagne loszutreten. Mervyns alter Freund Martin Dewhirst, einstiger Studienkollege in Moskau, war im Zuge von Brookes Prozess ebenfalls der antisowjetischen Propaganda beschuldigt worden, so wie auch Peter Reddaway, ein weiterer Freund Mervyns, der wie er aus der Sowjetunion ausgewiesen worden war. Doch glücklicherweise fand Mervyns Name weder vor Gericht noch in der Presse Erwähnung. Warum nicht, das fand er nie heraus.
Bald kursierten Gerüchte, die sowjetischen Behörden hätten angeboten, Brooke gegen Peter und Helen Kroger auszutauschen, ein
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