Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
bis dieser Streit beigelegt ist, müssen wir leiden«, antwortete Mervyn. »Ich glaube, die Regierung liegt in dieser Frage falsch, aber ich gehe mit diesem Standpunkt nicht hausieren. In den letzten Nächten habe ich schlecht geschlafen, und ich träume oft von Dir. Ich denke oft an die wunderbaren Abendessen, die Du mir gekocht hast. Ich versuche, hier nicht zu viel zu essen. Ich habe mir ein neues Paar Hausschuhe gekauft, ungarische, und habe angefangen, Squash zu spielen. Sei nicht traurig, meine liebe Milotschka, alles wird am Ende gut werden. Ich umarme dich. M.«
Es war nur eine Frage der Zeit, bis Milas skandalöse Liebesbeziehung zu einem Ausländer, der aus der Sowjetunion ausgewiesen worden war, mit ihrer Position am Institut für Marxismus-Leninismus kollidierte. Hinter ihrem Rücken, das wusste sie, wurde viel getratscht. Manche ihrer Kollegen zeigten deutlich Anteilnahme, doch viele andere sahen weg, wenn sie ihr begegneten. Mila blieb so viel wie möglich für sich, um niemanden in Verlegenheit zu bringen. Sie versuchte, sich in ihrer Arbeit zu vergraben, musste aber feststellen, dass »der Schmerz mich blöde gemacht hat, er quält mich so sehr«.
Der vernichtende Schlag kam nach einer eigens einberufenen Sitzung der führenden Parteimitglieder des Instituts, ein verdrießlicher Haufen Fanatiker. »Diese Woche war ein Albtraum, nervenzehrend, voller Tränen«, berichtete Mila. »Auf der Arbeit herrscht großer Wirbel. Vor ein paar Tagen fand eine Parteiversammlung statt. Sie verlangten einen Bericht über ›meinen Fall‹. Sie wollten Blut. Sie brüllten: ›Warum wussten wir nicht früher davon? Warum haben Sie uns nicht alles erzählt?‹ (Das waren die Worte des Parteisekretärs.) ›Wir müssen über die Organe [der Staatssicherheit] mehr in Erfahrung bringen. Und was sagt sie selbst? Sie leugnet es. Sehen Sie doch! Wenn die Regierung eine Entscheidung getroffen hat, so muss sie richtig sein. Sie muss bestraft werden! Sie hat ihre eigenen Interessen vor die der Gesellschaft gestellt! Er wird sie ganz sicher für antisowjetische Propaganda benutzen und dann verlassen.‹«
Ein paar Kollegen versuchten tapfer, Mila zu verteidigen, drängten auf Milde und sagten, nur weil sie sich verliebt habe, sei sie noch lange kein Volksfeind. Doch über die meisten schrieb sie: »Die Klugen schwiegen, die Mistkerle schrien, so laut sie konnten.« Dieses Heuchlergericht war der schlimmste Druck, eine perfekte Waffe in der von Konformität besessenen sowjetischen Gesellschaft. Und nicht nur in der sowjetischen: Der Autorität zu trotzen ist eines, doch nur wenige Menschen halten dem Chor der Missbilligung derer stand, die sie kennen und denen sie vertrauen.
Mila gönnte ihnen nicht den Triumph, vor ihnen in Tränen auszubrechen. Doch die Erfahrung erschütterte sie zutiefst. Bei all ihrer Tatkraft war sie trotz allem eine sowjetische Frau, die Tochter eines Kommunisten, ein vom Staat erzogenes Kind. Nie zuvor war sie mit der Aussicht auf unverhohlenen Dissens konfrontiert gewesen. Und sie war sich nur zu bewusst, dass der Makel der Rebellion sie ihr Leben lang verfolgen könnte.
»Ich glaube, auch wenn ich gehe, rufen sie sofort bei meiner neuen Arbeitsstelle an, oder jemand denunziert mich auf altbekannte Weise, und ich werde sofort wieder gekündigt«, schrieb Mila. »Trotzdem muss ich gehen. Die Atmosphäre ist vergiftet, es wird viel getratscht, und es gibt viele kleine Gespräche ›unterweisender Natur‹, die allein schon genügen, dass ich einen Herzinfarkt bekomme.«
Obwohl Mila öffentlich in Ungnade gefallen war, stand der Direktor des Instituts auf ihrer Seite. Er organisierte ihre Versetzung in die Zentralbibliothek der Akademie der Wissenschaften in eine vergleichbare Position und zum gleichen Gehalt. Milas Aufgabe bestand darin, wissenschaftliche Artikel aus französischen akademischen Zeitschriften zu übersetzen. Zu Milas großer Erleichterung waren ihre neuen Kollegen jung und eigenständig denkend. Die Bibliothek war tatsächlich eine Zufluchtsstätte für Dissidenten. »Ich fühlte mich wie ein Fisch, der ins Wasser geworfen wird«, erinnerte sich Mila. Der Raum, in dem sie arbeitete, war mit großen surrealen Bleistiftkarikaturen verschiedener bleichgesichtiger historischer Figuren geschmückt, die irgendein Witzbold mit Erlaubnis des Direktors direkt auf die Wand gezeichnet hatte. Sie und ihre Kollegen amüsierten sich damit, eine Reihe witziger Fotos zu schießen – eines zeigt
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