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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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Landstreicherfamilien, die in Nestern aus Pappe und Müll unterhalb der Bahnsteige lebten. Ich trank Bier mit einer Bande jugendlicher Taschendiebe, die der Polizei die Hälfte ihrer Beute als Schutzgeld aushändigten. Eine dreizehnjährige Prostituierte, das Gesicht mit weißer Schminke zugekleistert und das schmutzige Haar durch eine glänzende Plastikspange hochgehalten, versuchte mich anzumachen. Ich kaufte ihr eine Dose Gin Tonic, und sie erklärte mir, dass sie aus einem abgelegenen Dorf stamme und vor ihren Alkoholikereltern davongelaufen sei, die sie geschlagen hatten. »Aber jetzt bin ich hier, in der großen Stadt!«, sagte sie fröhlich und blickte sich in ihrer Betonwelt aus Müll und Neonlicht um. »Ich habe immer davon geträumt, hier zu leben.«
    In einem Labyrinth unterirdischer Heizungsrohre in den Außenbezirken der Stadt fand ich noch weitere Ausreißer. Die Kids kratzten sich als Taschendiebe und Laufburschen für die ortsansässigen Marktleute ihren Lebensunterhalt zusammen und kauften sich von dem Geld außerdem einen billigen Klebstoff der Marke »Moment« zum Schnüffeln. Sie waren dreckig und ausgezehrt, dabei aber großspurig und immer freundlich, trotz der ständigen Bedrohung durch marodierende Schwule, die sie zu vergewaltigen versuchten, die Polizei, die sie in regelmäßigen Abständen fasste, und amerikanische Missionare, die ihnen Essen gaben und sie zu Jesus beten ließen. Sie waren gerissen und zynisch wie Ratten, aber sie lebten wie eine Familie zusammen und halfen den Kleinsten, die erst acht oder neun waren, ernährten sie und unterwiesen sie in den harten Gepflogenheiten ihrer kleinen Welt. Sie luden mich voller Stolz in ihre Höhle ein und baten mich schüchtern, ihnen Hotdogs zu kaufen, den größten Luxus, den sie sich vorstellen konnten.

    Im August jenes Jahres zog ich in eine neue Wohnung in der Petrowkastraße. Meine Vermieterin in der Starokonjuschenny-Pereulok hatte im Rausch des Wirtschaftsbooms meine Miete mit zwei Tagen Vorwarnung um 50 Prozent erhöht. Ich versprach zu zahlen und machte mich mitten in der Nacht auf und davon.
    Meine neue Mitbewohnerin war ein reizendes kanadisches Blumenkind namens Patti, das inzwischen Börsenmaklerin geworden war. Patti, wie Tausende Expatriates, die damals Moskau bevölkerten, ritt ganz oben auf der Welle, die Boris Jelzins Wiederwahl im Jahr zuvor gefolgt war. Es waren glänzende Zeiten für all jene, die sich so positioniert hatten, dass sie vom größten Ausverkauf des Jahrhunderts profitieren konnten.
    Moskaus reiche junge Ausländer waren die Konquistadoren des Kapitalismus. Sie lebten in den riesigen Wohnungen, in denen einst Stalins Minister residiert hatten, schmissen rauschende Partys in den luxuriösen Datschen, die einst den Mitgliedern des Politbüros gehört hatten, flogen übers Wochenende mal eben schnell nach Ibiza, suchten sich die schönsten unter den Frauen des eroberten Landes aus und ernteten generell die Früchte der 100 Milliarden Dollar, die die NATO im Kalten Krieg für militärische Zwecke ausgegeben und es ihnen überhaupt ermöglicht hatten, da zu sein. Tagsüber handelten sie mit Aktien, kauften Firmen und gingen mit FMCGs – Fast Moving Consumer Goods oder auch Renner genannt – beim russischen Volk hausieren. Das heißt, sie machten ein Vermögen mit dem Verkauf von Tampax, Marlboros und Deo. Nachts fuhren sie in glänzenden schwarzen SUVs in Moskau herum, schnupften Kokain und sammelten eine Entourage berückend schöner Freundinnen um sich.
    Ein Bekannter von mir verdiente Millionen an einer netten Beziehung zur russisch-orthodoxen Kirche. Der Kreml erlaubte der Kirche, Alkohol und Zigaretten zollfrei zu importieren. Der Gewinn floss angeblich in den Wiederaufbau der Kirchen. Ein anderer Freund verdiente sich sein Geld als Wirtschaftsprüfer für eine große amerikanische Unternehmensberaterfirma. Der Deal war einfach genug: Egal, wie ruinös oder todgeweiht eine Fabrik war, er empfahl immer, die Hälfte der Arbeitskräfte zu entlassen, und stellte eine kreative Version ihrer Konten auf, um das Unternehmen dann an gierige Investoren aus dem Westen zu verkaufen und den Gewinn aus dem daraus resultierenden Börsengang mit dem Management zu teilen.
    Russland übte definitiv eine große Anziehung auf jeden aus, der zu widerwärtiger Verantwortungslosigkeit und Selbstzerstörung neigte. Und wer diese Neigung hatte, den hinderte nichts daran, ihr zu frönen. Es war eine seltsame, gottlose Welt, in

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