Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Seele mit Kraft. Das ist die beste Medizin für mich. Deine Briefe werden immer besser, und bald werde ich nicht mehr aus Leid, sondern vor Freude weinen.«
Das Wochenende verbrachte sie in der Datscha. Olga las Tschechow, während Mila strickte; ein spätsommerlicher Hagelsturm rüttelte am eisernen Dach des Hauses. Als der Sturm sich gelegt hatte, ging Mila lange über die Felder spazieren und rief laut nach Mervyn. Die Bürde ihres Leids verlangte ihren Tribut. »Mervyn, der Kummer saugt alles Leben aus ihr … Sie hat in ihrem Leben schon genug gelitten. Ich mache mir große Sorgen um sie«, schrieb Lenina. »Wohl weil sie nie elterliche Liebe gespürt oder gesehen hat, leidet sie nun doppelt so sehr. Unser Haus ist in Trauer, buchstäblich … Sie lächelt nicht mehr, lacht nicht mehr, hat immer Tränen in den Augen. Bitte schreib ihr öfter, sie lebt nur für Dich.«
Milas Periode blieb vor lauter Kummer aus, doch ihre Ärztin sagte ihr, sie solle sich deshalb keine Sorgen machen. »Im Krieg hatten die Frauen teilweise jahrelang ihre Tage nicht«, erzählte sie Mila. Trotzdem verschrieb sie ihr tägliche Spritzen »für die Nerven« und eine Magnettherapie – offenbar eine der pseudowissenschaftlichen Quacksalbereien, wie sie die hypochondrischen Sowjets so liebten.
1965 scheint Mila ein paar Monate von der Sorge besessen gewesen zu sein, dass man ihr ihren gut aussehenden Verlobten stehlen könnte. Diese Sorge verfolgte sie bis in ihren Schlaf. Mila träumte, sie sei mit Waleri im Bolschoi-Theater und sähe plötzlich unten im Parkett Mervyn mit einer anderen Frau. Sie rief und brüllte und wurde von dem unkontrollierbaren Verlangen erfasst, sich über den Rang zu ihm hinunterzustürzen.
Der Trennungsschmerz hatte Milas tiefste Ängste entfacht – die Angst vor dem Verlassenwerden vor allem, aber auch kleinere Unsicherheiten bezüglich ihres Aussehens. Mila wurde schmerzhaft bewusst, dass sie keine Schönheit war. »Das ist die schmerzhafteste Frage für mich, und ich spreche nie mit jemandem sonst darüber – aber es tut mir unendlich leid, dass ich Deinen Freunden und Bekannten in dieser Hinsicht nicht gefallen werde«, schrieb Mila. »Ich habe solche Angst davor, ich mache mir solche Sorgen deshalb. Obwohl ich einen Trost habe – mein Leben lang hatte ich immer viele Freunde, auch hübsche, und sie alle liebten mich und fanden mich anziehend. Ich weiß, dass Du schöne Frauen magst, so wie alle Männer. Ich liebe Schönheit auch. Ich hoffe sehr, dass Du darüber hinausblicken wirst und die Dinge siehst, die andere nicht sehen. Wir werden uns gemeinsam schöne Frauen ansehen. Ich bin nicht so unsicher, dass ich nicht die Schönheit anderer Frauen anerkennen kann, wenn sie keine Schlampen oder Närrinnen sind. Mein Leben lang habe ich mich nur selten fotografieren lassen – Du weißt, warum. Aber wenn mal ein schönes Foto darunter ist, schicke ich es Dir. Ich werde verlegen, wenn Du anderen meine Fotos zeigst.«
Auf der Arbeit zeigte Mila Mervyns Briefe herum. Sie hatte einen Mann, was sie wiederum ganz zu einer Frau machte. »Ich will, dass mich jemand liebt – die Leute sollen wissen, dass ich nicht so unglücklich bin.« Doch der Schmerz und vielleicht auch ein unbestimmtes Gefühl der Scham und Schuld darüber, ihren Geliebten verloren zu haben, ließen sie nach der Arbeit so lange herumtrödeln, dass sie nicht mit ansehen musste, wie andere Mädchen von ihren Ehemännern und Freunden abgeholt wurden.
Ende September 1965 las Mervyn eine hoffnungsvolle Geschichte in der Sun . Die geheimen Verhandlungen darüber, Brooke gegen die Krogers auszutauschen, waren weitergekommen, als Mervyn vermutet hatte. Wolfgang Vogel, ein mysteriöser ostdeutscher Anwalt, vertrat die sowjetische Seite. Vogel hatte eine ordentliche Erfolgsbilanz aufzuweisen – er hatte den Agententausch von 1962 organisiert, bei dem der amerikanische U-2-Pilot Francis Gary Powers gegen den altgedienten sowjetischen Spion »Rudolf Abel« ausgetauscht wurde. Abel, der eigentlich William Fischer hieß, war ironischerweise der Führungsoffizier der Krogers gewesen, als sie in den Vierzigerjahren in den USA arbeiteten und für die Moskauer Atomspione im »Manhattan Project« Nachrichten überbrachten. Vogel soll außerdem den »Kauf« Ostdeutscher durch ihre Westverwandten organisiert haben.
»Die britische Regierung hat verbittert alle Vorschläge eines Austauschs, jetzt oder in Zukunft, abgelehnt«, schrieb die Sun am 22.
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