Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
ein seriöser junger Mann aus: jemand, den man nach dem Weg fragen könnte, wenn man sich in einer fremden Stadt verlaufen hat, oder dem man seine Kamera anvertrauen würde, damit er ein Foto von einem macht.
Später – und ich sollte noch oft an ihn denken – stellte ich ihn mir vor, wie er mit seinem billigen Koffer und Polyesteranzug auf einem Flughafen stand, auf dem Weg in den Heiligen Krieg, aufgeregt, aber freudig. Und ich dachte an eine Familie, die irgendwo ihrem Alltag nachging, zankende Schwestern und eine nörgelnde Mutter, nicht wissend, dass ihr Sohn hier in den Ruinen eines tschetschenischen Hauses lag, wo er gestorben war, als er den Krieg anderer gekämpft hatte.
Ich hatte genug von Komsomolskoje. Wir liefen zurück zu unserem Auto, einem zerbeulten russischen Militärjeep mit einem jungen tschetschenischen Fahrer namens Beslan, der stolz auf seine Fahrkünste war. Wir hatten vier Stunden, ehe vom Flughafen Nasran in Inguschetien das einzige Flugzeug des Tages nach Moskau abflog. Beslan versprach, uns rechtzeitig hinzubringen. Er ließ den Motor aufheulen, als wir auf die Hauptstraße einbogen, und wir rasten westwärts auf die Grenze zu. Robert und ich saßen eingeklemmt auf dem Rücksitz mit unserem tschetschenischen Führer Musa, einem Beamten der pro Moskau eingestellten Regierung, der uns mit seinem Regierungsausweis durch alle Kontrollpunkte gebracht hatte. Zwei russische Polizisten, die er für 30 Dollar am Tag als Leibwächter angeheuert hatte, teilten sich den Beifahrersitz. Auf halbem Weg zur Grenze sahen wir einen russischen Mi-24-Kampfhubschrauber. Er schwebte drohend über einem Wäldchen, aus dem Rauch aufstieg. Der Hubschrauber drehte sich langsam in unsere Richtung.
Als Nächstes erinnere ich mich, dass die feuchten Felder vor der Windschutzscheibe einer Wand aus Erde wichen. Ich weiß noch, wie ich die Arme, so fest ich konnte, gegen die Vordersitze stemmte. Ein Augenblick größter körperlicher Anspannung und dann Erleichterung, als ich spürte, wie mein Körper den übermächtigen Gesetzen der Physik gehorchte und vorwärts durch die Windschutzscheibe flog. Zu meinem Glück war das Glas Sekunden zuvor durch den Kopf eines unserer Polizeileibwächter zersplittert worden.
Die Augenblicke, die folgten, waren von unendlichem Frieden erfüllt. Ich lag rücklings auf dem Schotter der Straße, mit ausgestreckten Gliedern, und blickte zu den Wolken auf, die über den weiten tschetschenischen Himmel zogen. Ich war mir bewusst, am Leben zu sein, auf eine Weise wie nie zuvor oder seither, und obwohl ich merkte, dass ich wahrscheinlich schwer verletzt war, waren die Anzeichen dafür irgendwo weit weg, wie ein klingelndes Telefon, das man ruhig ignorieren kann. Langsam tasteten sich meine Finger auf der Straßenoberfläche herum, ließen winzige Kiesel und Stückchen Schotter hin und her rollen. Irgendwo hörte ich Stimmen, und ich atmete tief durch die Nase ein, ob ich irgendwo Benzin oder Kordit oder etwas Brennendes riechen könnte. Doch ich roch lediglich Lehm und die blühenden Gräser am Straßenrand.
Mein Geist wandert oft zu diesem Augenblick zurück und schreibt ihm je nach Stimmung verschiedene Bedeutungen zu. Der einzige Gedanke, den ich jenem Zeitpunkt und Ort mit absoluter Ehrlichkeit zuschreiben kann, ist folgender: Ich spürte eine tiefe Zufriedenheit darüber, dass jemand in Moskau auf mich wartete, und eine überwältigende Sehnsucht danach, zu Xenia und nach Moskau zurückzukehren und beide nie wieder zu verlassen.
Ein bärtiges Gesicht tauchte über mir auf und begann zu sprechen. Etwas wie ein Reflex überkam mich; ich begann zu antworten, ganz ruhig, und gab Anordnungen. Meine Schulter war ausgekugelt, und ich vermutete, dass einige Rippen gebrochen waren. Ich wies den tschetschenischen Dorfbewohner an, seinen Fuß auf mein Schlüsselbein zu stellen, meinen nutzlosen rechten Arm aufzuheben und zu ziehen. Der Schock muss den Schmerz blockiert haben, denn ich gab weiter Anweisungen, bis mein Arm wieder ins Gelenk zurücksprang. Ich sah Robert, der an meiner Seite kniete und behutsam den Schal von meinem Hals wickelte, um eine improvisierte Schlinge daraus zu machen. Als ich mich aufsetzte, bekam ich mit, dass Beslans geliebter Jeep in einen 1,20 Meter tiefen Granattrichter in der Straße gekracht war. Beslan selbst hatte sich, wie ich mit einer gewissen Befriedigung feststellte, den Kopf an seinem Lenkrad aufgeschlagen und war dabei, sich das Blut abzuwischen. Die
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