Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
starren und dem gedämpften Lärm des Verkehrs draußen zu lauschen.
Ich begegnete Xenia Krawtschenko bei einem Abendessen einer belgischen Freundin in ihrer Wohnung in einer Seitenstraße des Arbat. Xenia war groß und dürr, hatte einen burschikosen Haarschnitt und trug abgetragene Jeans. Woran ich mich noch am lebhaftesten bei unserer ersten Begegnung erinnern kann, ist nicht ihr Aussehen oder etwas, was wir gesagt haben, sondern die überwältigende, fast schon übernatürliche Erkenntnis, dass Xenia die Frau war, die ich heiraten würde. Das klingt närrisch, aber ich spürte es mit aller Macht. »Plötzlich erkannte er, dass er sein Leben lang genau diese Frau geliebt hatte« – ich zitierte diese Zeile aus Bulgakows Der Meister und Margarita an genau jenem Abend einem Freund gegenüber. Einige Tage später küssten Xenia und ich uns zum ersten Mal auf einer Parkbank an den Patriarchenteichen, nicht weit von der Stelle entfernt, wo Woland, Bulgakows Inkarnation des Teufels, zum ersten Mal in Moskau auftaucht.
Xenia war intelligent und wunderschön. Die beiden Wörter passen gut zusammen. Aber tatsächlich erkennen die wahrhaftig intelligenten Frauen, diejenigen, die sich ihrer Macht über Männer bewusst sind, dass sie etwas von der Medusa in sich haben. Xenia hatte eine große, läuternde Kraft, die hinter ihrer Ruhe schlummerte, eine unheimliche Fähigkeit, Menschen aus ihrem alten Selbst zu vertreiben. Ich spürte nach meinen ersten Wochen mit Xenia, dass ich durch ihre gorgonische Gegenwart gereinigt worden war und mich grundlegend gewandelt hatte. Es war manchmal grausam, aber erleuchtend.
Darin waren keine große Krise und kein Drama. Im Gegenteil, ich fand Xenia oft aufreizend reserviert dem Leben im Allgemeinen und mir im Besonderen gegenüber. Sie schien in einer Wolke unbesiegbarer Unschuld zu schweben und weigerte sich, die Welt um sich herum ernst zu nehmen. Und doch wurde sie ein Spiegel, in dem ich zusah, wie mein Leben gewaltsam zerlegt wurde. Meine Sucht nach dem Blendwerk Moskaus, die voyeuristische Neigung, die mich nach allem suchen ließ, was verderbt und schmutzig und korrupt war – all dies kam mir plötzlich kindisch und müde und falsch vor. Ich bemerkte es nicht, während es geschah, doch Xenia riss mich von meinem alten, korrupten Selbst los und zwang mich, mich selbst als normal und ganz zu sehen. Sogar als potenziellen Ehemann und Vater.
Xenias Aussehen und Selbstbewusstsein schützten sie vor der Härte der sie umgebenden Wirklichkeit. Sie hatte es irgendwie geschafft, über das ruchlose, schmuddelige Moskauer Leben erhaben zu bleiben. Es war, als wären sie und ihre Familie aus einem anderen, sanfteren Zeitalter Russlands übrig geblieben. Sie stammte aus einer alten Künstlerfamilie und lebte in einer prachtvollen Wohnung, die seit 1914 in Familienbesitz war. Die Wohnung war vollgestopft mit staubigen antiken Möbeln und Gemälden; sie hatte eine Ruhe und Beständigkeit an sich, die ich bis dahin nur von alten englischen Landhäusern kannte. Die Familiendatscha, in der ich diese Zeilen schreibe, steht auf einer hohen Böschung an der Moskwa in Nikolina Gora, inmitten der Landhäuser der kulturellen Elite Stalins, gegenüber von den Prokofjews, Angehörigen des Komponisten, und den Michalkows und den Kontschalowskis – Schriftsteller-, Maler- und Filmemacherfamilien. Ihre Familie kannte die Nachbarn seit drei Generationen, und sie alle schienen so zauberhaft nutzlos geworden zu sein wie die wehrlosen Adeligen in Tschechows Kirschgarten . Ihr Charme und ihre Zerstreutheit unterschieden sie grundsätzlich von dem eisernen Willen der sowjetischen Generation, für die meine Mutter stand. Sie hatten zu den Glücklichen gezählt; ihr Leben war durch ein glückliches Schicksal nicht vom sowjetischen Jahrhundert gezeichnet worden.
Xenia zog in meine Wohnung. Wir aßen in meinem Schlafzimmer mit seinen blutroten Wänden, während sich meine Katze im Sonnenschein vor dem Fenster räkelte. Xenia blieb zu Hause, wenn ich zur Arbeit ging, zeichnete und malte, und wenn ich nach Hause kam, kochten wir Curry zum Abendessen und tranken billigen Rotwein. Ich war so glücklich wie nie zuvor.
Im Herbst 1999 brach ein neuer Krieg in Russland aus. Die ersten Schüsse waren keine Kugeln, sondern gewaltige Bomben, die in den Kellern von Wohnhäusern in den Außenbezirken von Moskau und Wolgodonsk in Südrussland explodierten. Ich stand inmitten der rauchenden Trümmer zerstörter Gebäude im
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