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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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durch den Nebel und das Stroboskoplicht einen Blick auf eine Geisterhand erhaschen, die an die Wand schrieb: »Du wurdest auf der Waage gewogen und für zu leicht befunden.«
    Die übernatürlichen Warnungen vor der Apokalypse nahmen biblische Dimensionen an: Mehltau vernichtete einen Großteil der Kartoffelernte in Russland, und der anhaltende Regen im August, der die Weizenfelder regelrecht planierte, bedeutete eine Katastrophe für die vielen Russen, die nur noch vom Eigenanbau lebten, solange die Regierung ihre Löhne nicht auszahlte. Ein außergewöhnlicher Sturm riss die goldenen Kreuze von den Kuppeln des Nowodewitschi-Klosters und brach die Zinnen von der Kremlmauer. In die russische Fahne auf dem Dach des Senatspalastes im Kreml schlug der Blitz ein. Selbst der Fernsehsender NTW wurde unabsichtlich zum Sprachrohr des Armageddon und zeigte an vier aufeinanderfolgenden Wochenenden Das Omen und seine Fortsetzungen. Russlands Babuschkas, die krankhaft pessimistisch nach Vorzeichen und Menetekeln Ausschau halten, gackerten wissend.

    Verheiratet. Mila, Mervyn und Eleonora Ginsburg posieren am 1. November 1969 vor dem Kreml, nachdem sie in der britischen Botschaft auf ihre Hochzeit angestoßen haben.
    Dann kam die Sintflut mit der Macht einer Naturkatastrophe. Nach einer Paniksitzung am Abend des 16. August 1998 entwertete die Regierung den Rubel, stellte die Rückzahlungen aller Inlands- und Auslandsschulden ein und zerstörte so in einer einzigen katastrophalen Woche den Aktienmarkt und löschte zwei Drittel des Wertes des Rubels aus.
    Das neue Bürgertum, das vor der Krise noch Pauschalreisen nach Antalya für den Winter geplant hatte, drängte sich vor den kollabierenden Banken und raufte sich darum, seine Ersparnisse zu retten. All die alten, wilden Reflexe des Selbsterhalts kehrten zurück. Moskauer Hausfrauen, die dachten, sie könnten zumindest »wie Menschen leben« (wie man in Russland sagt), rafften teure Makkaroni von den Regalen der Westsupermärkte in dem verzweifelten Versuch, ihre rasant an Wert verlierenden Rubel auszugeben. Ihre ärmeren Landsleute kauften auf den Märkten der Stadt alles auf, was sie für eine Belagerung brauchen würden – Streichhölzer, Mehl, Salz und Reis.
    Die halb vergessene Mentalität der bäuerlichen nachodtschiwost , des Einfallsreichtums, wurde abgestaubt und eingesetzt. Die Zeitungen veröffentlichten Haushaltstipps mit Überschriften wie »Welche Lebensmittel halten sich am längsten?« und rieten den Lesern, wegen möglicher Stromausfälle kein tiefgefrorenes Fleisch auf Vorrat zu kaufen. Erschöpfte Verkäufer in der Moskauer Filiale der British Home Stores verzichteten auf Preisschilder und addierten die rasend schnell steigenden Rubelpreise mit dem Taschenrechner. Die Luxusboutiquen in Moskaus vulgär-opulentem Einkaufszentrum Manege sahen aus wie ein Museum des alten Regimes.
    Innerhalb von zwei Monaten war die Zerstörung abgeschlossen. Vielleicht war es nur meine Fantasie, aber ich hatte das Gefühl, Moskau sei dunkler geworden, als der Herbst 1998 kam, physisch dunkler, schlecht beleuchtet, als verlösche das grelle Neonherz der Stadt allmählich. Ich rief meine Vermieterin an und teilte ihr mit, ich würde einseitig die 1500 Dollar Monatsmiete für meine Wohnung halbieren. Sie seufzte vor Erleichterung darüber, dass ich nicht auszog, und dankte mir.
    Ich ging auf viele Abschiedspartys meiner ausländischen Freunde, die plötzlich festgestellt hatten, dass sich ihre Aktienportfolios in Luft aufgelöst hatten und ihre Geschäftsmodelle implodiert waren. Eine Party stieg im Starlite Diner; die Gastgeberin war ein glamouröses, silikonbusiges kalifornisches Mädchen, das in den russischen Provinzen Herbalife vertrieben hatte. Sie hatte eine Truppe tragikomisch unfähiger russischer Zirkusartisten angeheuert, die zu unserer Unterhaltung auf Glasscherben tanzten und sich Metallspieße durch die Wangen stießen. Aus der Musicbox ertönten Get Back von den Beatles und Money von ABBA.
    Zum Jahreswechsel, dem Beginn des letzten Jahres des 20. Jahrhunderts, war ich selbst in einer Sackgasse angekommen. Ich verspürte eine große Müdigkeit, doch der Schlaf kam nur selten und brachte keine Erholung. Der schwarze Hund der Depression, der mich mein Leben lang immer wieder verfolgt hatte, schnappte zu. Ich dachte oft an die tote Jana und fühlte mich mittelmäßig und verbraucht. Ich verbrachte lange, leere Abende damit, auf den fallenden Schnee vor dem Fenster zu

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