Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
seiner Familie zurückzukehren. Vermutlich hatte sie das Kind den ortsansässigen Ärzten oder in ein Waisenhaus gegeben. Lenina fand nie Beweise für diese Annahme; sie vermutete es einfach, weil sie es mit dem Herzen sah, wie sie sagte. 2007 in Moskau begegnete sie einem Staatsanwalt namens Wiktor Schtscherbakow; doch nach eingehender Überprüfung fand meine Tante heraus, dass der Mann nicht ihr lange verlorener Halbbruder war, sondern ein Fremder, der zufällig den Nachnamen ihrer Mutter trug.
Nach einigen Tagen Überlegung beschloss Lenina im Alter von 82 Jahren, Wiktor, den 1948 verlorenen Jungen, nicht weiter zu suchen. »Was, wenn ich ihn finde, und er ist einfach ein Penner?«, fragte sie. »Er hat nicht Boris’ Blut in den Adern, das uns alle so großartig gemacht hat. Er hat Martas Blut, und davon brauchen wir wirklich nicht mehr.«
Anstelle eines normalen Passes erhielt Marta einen Zettel, der ihre Entlassung bestätigte, und einen Sonderpass, der es ihr lebenslang verbot, in oder nahe einer großen Stadt zu leben. In den Vierzigerjahren gab es in der Sowjetunion unzählige solcher Menschen, deren freies Wohnrecht eingeschränkt war – der verhängnisvolle Stempel in ihrem Pass verdammte sie zu einem Leben als Unperson.
Doch Marta hatte das Glück, dass ihr Schwiegersohn Sascha bereits als Rechtsreferendar im Justizministerium arbeitete. Er rettete sie durch ein Hintertürchen der Bürokratie. Martas Familienname tauchte in den Unterlagen des Gefängnisses als Schtscherbakowa auf, in der weiblichen Version ihres Nachnamens. Auf ihrer Geburtsurkunde stand jedoch »Schtscherbak«, die neutrale ukrainische Schreibweise. Sascha überzeugte die örtliche Polizei, einen Pass auf den Namen Marta Schtscherbak auszustellen, eine unschuldige Person ohne Vorstrafen und ohne eine offizielle »Einschränkung« ihrer Existenz. Auf dem Papier war sie fortan eine aufrechte sowjetische Bürgerin. Doch in ihrem Inneren, so erschien es den Menschen um sie herum, war ihre Seele zerrissen worden.
Die meisten Kinder in Ljudmilas Waisenhaus beendeten die Schule mit 14 Jahren. Nach einer einjährigen technischen Ausbildung in der Nähstube in Saltykowka wurden sie als Näherinnen in die Textilfabriken von Iwanowo geschickt, 200 Kilometer nördlich von Moskau, oder in die giftigen Chemiefabriken in Zentralasien. Ljudmilas Lehrer reichten ein Gesuch bei den örtlichen Behörden ein, sie für weitere drei Jahre an eine andere örtliche Schule zu schicken, um sich für die Universität zu qualifizieren. Dem Gesuch wurde stattgegeben, doch Ljudmila musste sich ihren Lebensunterhalt im Waisenhaus damit verdienen, dass sie die jüngeren Kinder unterrichtete und eine Theatergruppe organisierte. Hier wandte sie zum ersten Mal ihre empathische pädagogische Art an, die sie heute noch einsetzt, wenn sie Anweisungen Silbe für Silbe vorsingt und so erschrockene englische Studenten in die Geheimnisse des russischen Verbs einweiht. In den Stunden duldet sie keinen Unsinn und keine Fehler, doch dann ergeht sie sich noch Jahre später in unerwarteten Gefühlsausbrüchen angesichts der Erfolge ihrer Schüler.
Wäre Stalin nicht am 5. März 1953 an einer Hirnblutung gestorben, das Leben meiner Mutter wäre ganz anders verlaufen. Die Nachricht vom Tod des Diktators wurde den Kindern in Saltykowka von der Schulleiterin überbracht, die fast hysterisch war vor Trauer, und alle Kinder brachen in Tränen aus. Für viele der Waisenkinder kam der onkelhafte große Führer mit dem Schnurrbart dem am nächsten, was sie von echten Vätern wussten. In Moskau war Lenina inmitten der zwei Millionen Menschen, die Stalins Beerdigung beiwohnten. Auch sie vergoss echte Tränen um Stalin, ohne je auf den Gedanken zu kommen, der freundliche, lächelnde Mann sei verantwortlich dafür gewesen, dass man ihr die Eltern weggenommen hatte.
Als Stalin nicht mehr da war, wurde Ljudmilas Welt auf den Kopf gestellt. Sie machte ihren Abschluss in Saltykowka als Klassenbeste, mit einer fast perfekten Note (sie weiß heute noch, welcher Fehler sie die volle Punktzahl gekostet hatte: aus Versehen setzte sie ein Komma in dem Satz »Nilpferde, und Elefanten«). Unter Stalin wäre ein Platz an einer renommierten Universität für das Kind eines Volksfeinds undenkbar gewesen. Mila wäre wahrscheinlich an eine der pädagogischen Schulen in der Provinz gegangen und ihr Leben lang Lehrerin geblieben.
Doch nun wagte Lenina zu hoffen, dass der Makel im Lebenslauf ihrer
Weitere Kostenlose Bücher