Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
France!« von der Galerie herunter und warfen Abend für Abend Blumen auf die Bühne. Am letzten Abend der Spielzeit waren sie in der jubelnden Menge draußen vor dem Theater, die den Schauspielern vom Theaterplatz bis zum Hotel National folgte. In der Menge waren KGB-Leute, die Ljudmila gehässig mit ihren schweren Stiefeln von hinten traten, um die unziemliche Verehrung der Mädchen für die Ausländer zu dämpfen.
Als Gérard Philipe, der größte französische Schauspieler seiner Generation, im darauffolgenden Jahr zu einem Filmfestival nach Moskau kam, fiel Ljudmilas Bande regelrecht über ihn her. Er plauderte höflich mit seinen russischen Fans und versprach wiederzukommen. Nachdem Philipe zurück nach Frankreich gefahren war, sammelten Mila und ihre Freunde Spenden für ein Geschenk für ihren Helden. Eines der Mädchen fuhr mit dem Zug nach Palech, einem für seine Lackminiaturen berühmten Dorf, und gab ein Porträt von Philipe als Julien Sorel in dem Film Le Rouge et le noir in Auftrag. Als die französischen Kommunisten Elsa Triolet und Louis Aragon ein paar Monate später Moskau besuchten, marschierten Ljudmila und vier ihrer Freunde ins Hotel Moskwa – eine kühne Aktion, da im Hotel Ausländer wohnten und es vor KGB-Leuten nur so wimmelte – und riefen Triolet von der Lobby aus an. Sie erklärten, sie hätten ein Geschenk für Gérard Philipe, das sie für ihn mit nach Paris nehmen sollte. Verblüfft, aber auch beeindruckt, kam Triolet herunter und nahm das Geschenk entgegen. Bei ihrer Rückkehr nach Paris übergab sie es wie versprochen Philipe. Noch fünf Jahre zuvor wäre so etwas Wahnsinn, undenkbarer Wahnsinn gewesen. Doch die Tauwetterperiode unter Chruschtschow hatte die Regeln geändert, und Ljudmila und ihre Freunde testeten die Grenzen der neuen Welt, so weit sie es wagten.
In L’Humanité , der französischsprachigen kommunistischen Tageszeitung, die als einzige französische Zeitung in der Sowjetunion erhältlich war, las ein Freund von Ljudmila, dass Gérard Philipe auf einer Kulturreise in Peking sei. Für einen Streich – einen gefährlichen Streich – gingen die Mädchen zum Zentralen Telegrafenamt in der Gorkistraße und meldeten ein Ferngespräch nach China an. Sie hatten keine Ahnung, in welchem Hotel er wohnte. Die Telefonistin, eine junge Frau, der die Kühnheit gefiel, wies ihre chinesische Kollegin an, sie mit dem größten Hotel der Stadt zu verbinden. Eine halbe Stunde später sprach Ljudmilas Freundin Olga mit Gérard Philipe, der ihr sagte, er würde auf dem Rückflug nach Paris in Moskau zwischenlanden.
Am Flughafen Wnukowo versuchte die Polizei, sie aufzuhalten, doch die 20 Mädchen stürmten über die Rollbahn und versammelten sich am Fuß der Gangway. Philipe war inzwischen unheilbar an einer Hepatitis erkrankt, die er sich in Südamerika zugezogen hatte. Er war aschfahl und sah viel älter aus als seine 37 Jahre. Er erkannte Ljudmila wieder und begrüßte sie herzlich. Sie bat ihn, ihre Ausgabe von Stendhals Le Rouge et le noir zu signieren.
»Pour Lyudmila, en souvenir du soleil de Moscou« **** , schrieb Philipe. Das Buch steht immer noch auf dem Regal im Schlafzimmer meiner Mutter.
Mila machte ihren Abschluss an der Staatlichen Universität Moskau mit einem Roten Diplom. Sie war eine der Besten ihres Jahrgangs. Als sie die Universität verließ, wählte Ljudmila die riskante Option, einen von der Universität zu vergebenden Posten abzulehnen und sich stattdessen selbst eine Stelle zu suchen. Sie mietete bei einem älteren Ehepaar in der Nähe der Metrostation Lermontowskaja ein Zimmer und schlief dort auf einem Feldbett. Ihr Vermieter war ein Luftfahrtingenieur, und Ljudmila unterrichtete gegen Kost und Logis seinen Sohn. Der Ingenieur hatte keine offizielle Arbeit und erledigte nur Gelegenheitsjobs für seine Nachbarn. Ljudmila vermutete, er sei in Ungnade gefallen und untergetaucht. Die Familie schlug sich irgendwie am Rande der sowjetischen Gesellschaft durch, in der ein Mann ohne Anstellung eine Unperson ohne Geld war, ohne Anspruch auf eine Schulausbildung für seine Kinder, Zugang zu Arbeitskantinen oder Ferien. Die Familie lebte von Karotten und Knochensuppe; Ljudmila brachte Würstchen mit, wann immer sie welche erstand und Zeit hatte, Schlange zu stehen.
Jekaterina Iwanowna Markitan, die Frau eines ehemaligen Parteikollegen von Boris Bibikow aus den Tagen des Charkower Traktorenwerks, kam zu einem Einkaufsbummel aus Südrussland nach Moskau
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