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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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verkrüppelten Bein im Moskauer Botkin-Krankenhaus, 1949.
    Lenina erinnerte sich an ihre Mutter als die modische Ehefrau eines Parteikaders. Als sie nun den Bahnsteig entlanggestolpert kam, sah Marta aus wie eine Bettlerin. Sie war dreckig und verlaust und trug eine gefütterte schwarze Häftlingsjacke. Außer einem schmutzigen Bündel Kleidung hatte sie kein Gepäck. Sie war allein.
    Marta lächelte kaum, als ihre Tochter, hochschwanger mit ihrem zweiten Kind, auf sie zu watschelte. Sie umarmten sich und weinten. Lenina fragte ihre Mutter, was mit ihrem Neugeborenen geschehen sei. »Tja, es ist gestorben«, sagte Marta wegwerfend und schob sich in die Menge, die zum Ausgang strömte. Sie fuhren schweigend mit der Metro zur Barrikadnajastraße, wo Lenina mit ihrer Mutter erst einmal in ein öffentliches Badehaus am Zoo ging, um sie zu waschen und zu entlausen.
    Zu Hause an jenem Abend in der Kellerwohnung in der Gerzenstraße, mit Lenina, Sascha und ihrer Tochter Nadja, schien Marta in eine Art Betäubungszustand zu verfallen. Sie beschwerte sich, ihr Bett sei zu weich und ihre Enkelin weine zu laut. Am Ende des Abends war Lenina in Tränen aufgelöst. Sascha tröstete sie, während seine Schwiegermutter schlaflos in der Küche auf und ab ging.
    Am nächsten Tag fuhr Lenina mit der elektritschka nach Saltykowka, um Ljudmila zu holen. Als die beiden Mädchen in der Gerzenstraße ankamen, wartete Marta schon ungeduldig an der Wohnungstür. Die Wohnung lag am Ende eines langen Flures, und das Erste, was Marta von ihrer jüngeren Tochter sah, war eine verkrüppelte Silhouette am Ende des Flures. Marta rief Ljudmilas Namen und heulte auf, als das kleine Mädchen hinkend auf sie zu zugerannt kam. Ljudmila vergaß dieses schreckliche Heulen ihr Leben lang nicht mehr – das Heulen einer Frau, die ihre Tochter zuletzt als pummeliges, glückliches Kleinkind gesehen und dann für elf Jahre verloren hatte, nur um sie dann als humpelnde, ausgezehrte 14-Jährige wiederzufinden.
    Marta hielt sie lange weinend im Arm. Wenn Mila heute an die Begegnung denkt, sucht sie nach irgendeiner Spur ihrer Gefühle damals und schüttelt den Kopf. Sie fühlte nichts. »Ich habe sie wahrscheinlich umarmt. Ich habe wahrscheinlich ›Mutter‹ gesagt. Aber ich weiß es nicht mehr.«
    Für Mila war das Wort »Mutter« nur ein abstrakter Begriff. In der Welt der Waisen, in der sie ihre Kindheit verbrachte, hatte er keinen Platz. Sie hatte keinerlei Erinnerung an ihre Eltern, außer dem einen Bild aus der Nacht, als ihre Mutter verhaftet wurde, und den Schatten einer Erinnerung an ihren Vater. Sie hatte ihrer Mutter brav einen Brief nach KarLag geschrieben, als Lenina ihr erzählt hatte, dass sie am Leben und wohlauf sei. Aber die Versicherungen ihrer Zuneigung in dem Brief waren in Wahrheit lediglich erfunden. Wie eine wirkliche Mutter war und was man ihr gegenüber empfand, wusste Mila nur aus Büchern.
    Als sie am späten Nachmittag nach Saltykowka zurückfuhr, fühlte Ljudmila vor allem überschwängliche Dankbarkeit für das reichliche Mahl, das Marta ihnen gekocht hatte. Jahre später schrieb sie ihrem Verlobten, dass sie zuerst geweint hatte, als sie hörte, dass ihre Mutter lebte, dann aber die Tränen rigoros als Zeichen der Schwäche unterdrückt hatte.

    Marta wurde für Ljudmila nie eine echte Mutter. Das Band, das im Dezember 1937 durchtrennt worden war, ließ sich nie wieder zusammenknüpfen. Mila kam oft in Leninas Wohnung, merkte aber schnell, dass sie Martas brütende Art und ihre Wutausbrüche nicht ertragen konnte. Innerhalb weniger Monate nach Martas Rückkehr nach Moskau hatten sie einen pflichtbewussten Rhythmus etabliert. An den Wochenenden fuhren Marta und Lenina meist hinaus nach Saltykowka. Lenina holte ihre Schwester für einen Spaziergang aus dem Waisenhaus ab; Marta, die offiziell immer noch eine Unperson war, wartete am Dorfteich auf ihre Töchter. Sie gingen spazieren und unterhielten sich, und Marta gab den Mädchen Süßigkeiten und Gebäck, das sie gekauft oder gemacht hatte und das Mila dann mit den anderen Kindern teilte.
    Ljudmila liebte ihre Mutter, »wie ein Hund den Menschen liebt, der ihn füttert«, erzählte sie mir eines heißen Sommerabends in meiner Wohnung in Istanbul. »Ich verstand ›Partei‹, ›Stalin‹, ›Volk‹. Aber ich wusste nie, was das Wort ›Mutter‹ bedeutet.«
    Obwohl ihre Mutter lebte, blieb Mila im Herzen ein Waisenkind. Doch lange, ehe Ljudmila selbst Mutter wurde, war sie

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