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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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Genossen in der Verwaltung sehr überrascht waren, als er verhaftet wurde«, sagte die Stenotypistin Olga Irschawskaja.
    Am 22. Februar 1956 verfertigte eine geschlossene Sitzung des Obersten Gerichtshofs der UdSSR einen ausführlichen geheimen Bericht, der die Entscheidung des Militärkollegiums vom 13. Oktober 1937 offiziell aufhob. Boris’ Familie erhielt eine kurze Mitteilung über seine Rehabilitierung, zusammen mit einem Totenschein. Die Zeile »Todesursache« war freigelassen.

    Die Universität war der Himmel für Ljudmila. Sie zog in ein Studentenwohnheim in der Stromynkastraße in Sokolniki im Norden Moskaus, wo sie zunächst in einem Schlafsaal mit 15 oder 16 Mädchen untergebracht wurde. Bald schon bekam sie in ein eigenes Zimmer im Hauptgebäude der Universität, auf dem weitläufigen Campus auf den Leninbergen. Sie hatte ihre ganze Kindheit in sowjetischen Einrichtungen verbracht, und das enge Zusammenleben in der Universität war kein schlechter Ersatz für eine Familie. Sie fand sofort Freunde unter den Intelligentesten ihrer Generation. Einer von ihnen war Juri Afanasjew, ein untersetzter, offenherziger Kommilitone am Institut für Geschichte, der einer der führenden Denker der Perestroika werden sollte. Ein anderer Zeitgenosse war ein Bauernsohn aus Stawropol mit starkem Dialekt, dem jegliche kosmopolitische Ironie über das sowjetische Leben abging, die Mila und ihre Freunde so schnell entwickelten. Er machte Leninas Freundin Nadja Michailowa beharrlich den Hof, die ihn unerträglich provinziell fand und immer wieder abwies. Sein Name war Michail Sergejewitsch Gorbatschow. »Wie kann die Nachkommin eines wohlhabenden Moskauer Kaufmanns einen Lastwagenfahrer aus Stawropol heiraten?«, scherzte Nadja gerne.
    Ljudmila lernte Französisch, Grundkenntnisse in Latein und Deutsch – und die Kunst, nach außen konform zu sein und hart zu arbeiten. Ihre Aufsätze in gestochener Handschrift zeugen von vorbildlicher Sorgfalt und Fleiß. Sie war ein Geschöpf des sowjetischen Systems, das sie großgezogen hatte, mit seinem Schwerpunkt auf herzlicher gemeinschaftlicher Aktivität und dem völligen Fehlen körperlicher und geistiger Privatheit. Das Studentenleben in den Fünfzigerjahren war erfüllt von halb freiwilligen nachmittäglichen Molière-Lesungen, Wanderungen in der Natur und Theatergruppen. Doch trotz der Zwänge der Ideologie und des kommunalen Lebens fühlte Mila die beglückende Freiheit, endlich die fremde und grenzenlose Welt der Literatur erkunden zu können. Sie las Dumas und Hugo, Zola und Dostojewski, die sentimentalen Ergüsse von Alexander Grin und die realistische Prosa von Iwan Bunin. In den Büchern, der Musik und im Theater fand sie endlich ihr ganz privates Fenster zu einer Welt, die groß genug war für ihre ungeheure Energie.
    Ljudmila war beliebt. Ihre Leidenschaft – oder eine ihrer vielen Leidenschaften – war das Ballett. Lenina hatte sie einmal ins Bolschoi-Theater mitgenommen, nachdem Sascha darauf bestanden hatte, dass seine kleine Schwägerin einen »Start ins Leben« bekommen sollte, und von da an gingen sie, so oft sie konnten.
    Ljudmilas Liebe zu diesem »Großen Theater« aus dem 19. Jahrhundert am Theaterplatz keimte in ihrer Studentenzeit auf. Sie und ihre Freunde gingen mehrmals in der Woche ins Bolschoi und applaudierten am Ende jeden Aktes begeistert von den billigen Plätzen aus. Nach der Aufführung hielten sie draußen in der Kälte vor Tür 17 Wache, um die Tänzer zu begrüßen, wenn sie mit riesigen Blumensträußen herauskamen. Waleri Golowister, ein dünner und empfindsamer junger Mann und Bruder von Ljudmilas bester Freundin Galja, war ihr engster Freund. Sie waren beide glühende Ballettliebhaber. Er schien sich nicht für Mädchen zu interessieren, trotz seines guten Aussehens, aber es waren unschuldige Zeiten, und niemand, zumindest nicht Ljudmila und ihre nicht gerade weltgewandten Freundinnen, erahnten auch nur im Traum seine Homosexualität, die er sorgfältig verbarg.
    Ljudmila und ihren Freundinnen genügte das reine Zusehen nicht – sie mussten sich in die Aufführung stürzen, die Schauspieler und Tänzer lieben und über dem Libretto weinen. Sie standen Schlange um Karten für die Comédie-Française, die erste ausländische Truppe, die seit der Vorkriegszeit wieder in Moskau spielte, und gingen in fast jede der 40 Aufführungen des Repertoires, das von Molières Tartuffe bis zu Corneilles Le Cid reichte. Sie jauchzten »Vive la

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