Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Finger, als sie sie nach einem hysterischen Kampf, bei dem die Hälfte von Leninas wertvollem Geschirr zu Bruch ging, festzuhalten versuchte. Nachts weinte Marta und verfluchte Boris als »verräterischen Narren«, weil er solches Elend über sie gebracht hatte. Sie sagte, sie wollte ihn nie wiedersehen und hoffte, er sei tot.
»Wir haben das alles ertragen«, erinnert sich Lenina. »Aber wie viel Blut sie trank! Sie lebte von unserem Leiden.«
Es dauerte Monate, ehe Marta erzählte, wie sie das vergangene Jahrzehnt verbracht hatte, und selbst dann spuckte sie die Geschichten förmlich aus, begleitet von zynischen Kommentaren. Marta war innerhalb weniger Wochen nach ihrer Verhaftung verurteilt worden. Sie scheint im Verhör so etwas wie einen Nervenzusammenbruch erlitten zu haben und gestand alles, was ihr gesagt wurde, darunter auch die Schuld ihres Ehemanns. Sie wurde zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt wegen »Mittäterschaft an antisowjetischen Aktivitäten«. Marta und mehrere Hundert andere weibliche Gefangene wurden auf Viehtransporter verladen und zu einem abgelegenen Bahnhof in Kasachstan verbracht. Von dort aus marschierten sie durch die Steppe bis nach Semipalatinsk, einem primitiven Zeltlager, und mussten aus rohem Holz und Stacheldraht ihr eigenes Gefängnis bauen.
Ein Freund der Familie meiner Frau, Sohn eines Gulag-Häftlings, erzählte mir einmal, wie sein Vater in den Lagern überlebt hatte. »Vergiss dein einstiges Leben, als sei es nur ein Traum gewesen«, hatte der alte Mann gesagt. »Gib alle Hoffnung auf, je zurückzukehren, leere deinen Geist von Zorn und Bedauern, und geh in der Gegenwart auf, genieß die Freuden des Lagerlebens, einen heißen Ofen, Seife in der banja , die schwache Dämmerung im sibirischen Winter und das Schweigen der Wälder, einen Preiselbeerbusch in der Taiga, eine Aufmerksamkeit eines Zellengenossen.« Aber es erforderte eine starke Persönlichkeit, vielleicht sogar übermenschliche Kräfte, tatsächlich so zu leben, und die meisten Männer und Frauen gingen an dieser Probe zugrunde.
Marta sprach fast nie über ihr Leben im Lager. Sie erzählte Lenina nur eine einzige Geschichte, und die war so grausam und grotesk, dass sie wenig Verlangen verspürte, weitere zu hören. Einst im Herbst, noch vor dem Krieg, kalbten die Kühe des Lagers. Immer, wenn ein Kalb geboren war, musste Marta die dampfende Plazenta und die Eihaut mit einem Eimer einsammeln, draußen in eine Tonne werfen und sie mit Karbolsäure bedecken, damit die Ratten sie nicht fraßen. Marta ging wieder hinein, um bei einer weiteren Geburt zu helfen, und als sie wieder herauskam, fand sie zwei Männer, kaum mehr als Skelette, die sich in heftigen Schmerzen neben der Mülltonne wanden. Sie waren neu angekommene Häftlinge aus einem anderen Lager, ehemalige Priester, mehr tot als lebendig. Sie waren zum Kuhstall gekrochen und hatten die rohen Plazenten gegessen. Marta zerrte einen der Männer in den Stall und gab ihm frische Milch zu trinken, um die Karbolsäure zu neutralisieren. Er überlebte. Der andere starb, wo er lag. Später, als sie beide entlassen wurden, lebte Marta mit dem Mann zusammen, den sie gerettet hatte; er war der Vater des Kindes, das starb, ehe Marta nach Moskau zurückkehrte.
Nachdem die letzte Kuh in jener Nacht gekalbt hatte, musste Marta dabei helfen, die Leichen der Häftlinge einzusammeln, die bei der Ankunft gestorben waren. Sie und ein paar andere Frauen luden sie auf einen Karren, den Marta dann allein in die Steppe zum abgelegenen Friedhof des Lagers brachte. Marta erzählte Lenina, dass die Steppenschakale das tote Fleisch auf dem Wagen witterten und sie jagten. Um sich zu retten, habe sie eine der Leichen den wilden Hunden vorgeworfen.
Martas Haftstrafe endete Anfang 1948, aber sie durfte noch nicht nach Hause zurückkehren. Zunächst wurde sie in »administrativen Gewahrsam« entlassen, was bedeutete, dass sie in einem Dorf ehemaliger Häftlinge in der Nähe des Lagers bleiben musste. Sie und der Priester, dessen Namen sie Lenina niemals verriet, bauten sich ein neues Leben in einer Holzhütte in den Vororten von KarLag auf. Sie hatten einen winzigen Gemüsegarten und erledigten Hilfsarbeiten für die Angestellten des Lagers.
Sie sprach fast nie von ihrem »Lagerehemann« oder von ihrem Sohn Wiktor, der Marta zufolge direkt vor ihrer Rückkehr nach Moskau gestorben war. Doch Lenina hatte den Verdacht, dass Marta das Kind weggab, als der Priester sie verließ, um zu
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