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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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Antragsteller verlangte, mit einem echten, lebenden Engländer zu sprechen. Ich war 18 Jahre alt. Die Söhne des Geschäftsträgers brachten mir auf dem makellosen Rasen vor ihrer Residenz ganz in der Nähe des alten Arbat Krocket bei und mieteten eine offizielle schwarze Wolga-Limousine, mit der sie mich in der Wohnung meiner Tante abholten und morgens zur Arbeit fuhren.
    Moskau hatte sich seit meinem letzten Besuch unglaublich verändert; überall war fast mit Händen greifbar der Auflösungsprozess zu spüren, in dem sich diese einst so unerschütterlich scheinende alte Ordnung befand. Die Verkehrspolizei verfügte offenbar über keinerlei Mittel, Autofahrer an illegalen 180-Grad-Wendemanövern zu hindern; alle ignorierten schlichtweg das offizielle Verbot, Privatautos als Taxi zu verwenden. Der Wechselkurs auf dem Schwarzmarkt war zehnmal höher als der offizielle und machte mich über Nacht reich. Es gab zwar nicht viel zu kaufen, aber für umgerechnet gerade mal 20 Pfund kaufte ich alle klassischen Schallplatten, die der Plattenladen Melodija am Neuen Arbat anzubieten hatte, und schleppte paketeweise Kunstbücher nach Hause, die ich für Pfennige im Laden der Tretjakow-Galerie erstanden hatte. Der neu eröffnete McDonald’s am Puschkinplatz – der erste in der Sowjetunion – hatte der Botschaft Gutscheine für kostenlose Big Macs geschickt, und so forderten ein paar britische Kollegen und ich eines Mittags den Rolls-Royce des Botschafters an und fuhren hinüber, um uns Mittagessen zu holen. Die Schlange, in der die Russen geduldig um ihre erste Kostprobe des Westens anstanden, zog sich die ganze Straße entlang. Wir stiegen aus dem Rolls-Royce und marschierten geradewegs in den Laden hinein, mit unseren Gutscheinen und unserem Ausländertum wedelnd als selbst erklärende Zeichen der Privilegiertheit. Heute bin ich nicht stolz darauf, doch Moskau gab mir zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, reich, cool und unsäglich überlegen zu sein.
    Alles an Moskau wirkte noch heruntergekommen und schäbig: die Kleidung und Schuhe der Leute, die Autos und die Elektrogeräte und die Busfahrkarten und die Busse. Doch jeder, der jung und intelligent war, hegte eine ganz neue Hoffnung für die Zukunft. Freunde nahmen mich mit zu einem Geschichtsvortrag von Juri Afanasjew, dem einstigen Klassenkameraden meiner Mutter, der zwei Stunden lang in einem riesigen, brechend vollen Saal über den Stalinismus redete. Die Tatsache, dass er ein Tabuthema so offen ansprach, wirkte berauschend. Das Publikum schrieb nach dem Vortrag Fragen auf Zettel, die nach anerkannter sowjetischer Manier in einem ununterbrochenen Strom an den Redner weitergereicht wurden. Die Versammlung löste sich erst auf, als jemand mahnte, der letzte Bus würde bald fahren. Der Hunger nach Wahrheit, den ich bei diesen Menschen spürte, beeindruckte mich tief – und ihre Überzeugung, dass diese Wahrheit sie irgendwie frei machen würde. Ich fand meine neuen sowjetischen Freunde sentimental und naiv, doch ihr Ernst war unverkennbar und ihre Überzeugung, dass sie, wie Solschenizyn gemahnt hatte, nicht länger mit den Lügen leben dürften.

    Fünf Jahre später durchschritt ich ein weiteres Mal den Spiegel nach Russland, indem ich erneut das unendlich bedrückende Halbdunkel des Flughafens Scheremetjewo passierte – diesmal nicht als Besucher, sondern um ein neues Leben zu beginnen. Der alte Geruch nach sowjetischem Putzmittel und muffiger Heizung war noch da, so wie ich ihn von den Reisen meiner Kindheit kannte. Doch ansonsten hatte sich viel verändert. Anstelle der hallenden leeren Gänge und strengen Grenzbeamten fand ich bei meiner Ankunft eine Meute wuselnder Taxifahrer vor. Grelle Plakatwände warben für Importbier und Zigaretten von More. Dicke Schwarzhändlerinnen schoben sich an mir vorbei, bepackt mit riesigen Taschen voller Mäntel und Stiefel, die sie in Dubai und Istanbul gekauft hatten. Wiktor, ein Fahrer der Moscow Times , holte mich aus dem Gedränge, verfrachtete mich in seinen altersschwachen Lada und fuhr durch den dichten Verkehr auf dem Leningradsky Prospekt.
    Der verhangene Himmel hatte die Farbe von Rauch, und das schwache Spätwinterlicht tauchte die Stadt in mattes Grau. Zu beiden Seiten der Straße reihten sich Wohnblocks bis zu einem Horizont aus hoch aufragenden Schloten und Dunst. Breite Busse schoben sich mit klappernden Motorhauben und rußenden Auspuffen vorwärts. An den Straßenrändern warteten ganze Scharen von

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