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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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wie im Belagerungszustand hinter doppeltverglasten Fenstern zusammenschrumpft, Schutz sucht im Mief der staatlichen Dampfheizung, und dass wir dieser überwältigenden Naturgewalt ausgeliefert sind, verletzlich und unfähig, etwas anderes zu tun, als uns in unser Schicksal zu fügen.

    Als im Dezember 1958 der erste heftige Frost kam, wurden Mervyns Abendessen mit Wadim regelmäßiger. Ehe sie sich trennten, verabredeten sie sich immer schon für das nächste Mal; aus unausgesprochenen, aber naheliegenden Gründen zogen es beide vor, sich nicht anzurufen.
    Eines Abends machte sich Mervyn im Trolleybus auf den Weg zum Maneschnajaplatz. Wadim wollte mit ihm ins Aragwi, ihr georgisches Lieblingsrestaurant, oder vielleicht zum Hotel National.
    »Abenteuer können etwas Wunderbares sein.« Mervyn in der Diplomatenwohnung an der Sadowo-Samotechnaja in Moskau, 1958.
    Doch zu seiner Überraschung und Beunruhigung traf er Wadim an der Bushaltestelle neben einer schnurrenden offiziellen SiL-Limousine. Wadim begrüßte ihn herzlich und erklärte leichthin, das Auto gehöre seinem Onkel, der es ihm für den Abend geliehen habe, damit sie zu seiner Datscha fahren könnten, wo das Abendessen bereits auf sie warte. Wadim hielt erwartungsvoll die Tür auf. Mervyn zögerte angesichts der möglichen Konsequenzen einer solchen Missachtung des von der Sowjetregierung für Ausländer verhängten Verbots, unangemeldet die Stadt zu verlassen. Doch dann kletterte er in den SiL und fuhr mit Wadim zur Datscha, weit außerhalb der Stadt und tief in der winterlichen Landschaft, hinein in eine neue, seltsame und gefährliche Phase seines Lebens.
    Das Abendessen war hervorragend. Mervyn und Wadim aßen Kaviar, Hering, geräuchterten Stör und dampfende Kartoffeln, serviert von einem alten Koch und begleitet von Wodka in rauen Mengen. Später saßen sie am offenen Kamin, diskutierten über Frauen und versuchten betrunken Billard zu spielen. Das Besteck war aus schwerem viktorianischem Silber und die Sessel am Kamin dick gepolstert und aus vorrevolutionärer Zeit. Ein Freund von Wadim war auch da, ein dicker jovialer Gynäkologe, der Witze über seine Forschungsarbeit riss, die darin bestand, die Gebärmutter weiblicher Kaninchen aufzublasen. Wadim schwelgte in Erinnerungen an seine letzten Eroberungen. Über Politik wurde nicht gesprochen. Mervyn entspannte sich, vom Wodka benebelt, den er noch nie gut vertragen hatte. Als er schwärmte, wie schön das Haus sei, mit seinen riesigen dunklen Ölgemälden und der geschwungenen Treppe, murmelte Wadim beiläufig, sein Onkel sei eben ein bolschaja schischka , ein »großer Tannenzapfen«, salopp für ein hohes Tier.
    Um ein Uhr morgens kam der Koch herein und teilte mit, die Limousine warte. Sie fuhren schweigend nach Moskau zurück, satt, betrunken und glücklich. Wieder auf vertrautem Terrain, als das riesige Auto am Majakowskiplatz auf den Gartenring bog, drang ein vernünftiger Gedanke durch den Wodkanebel. Mervyn wies den Fahrer an, ein paar Hundert Meter vor der Sad-Sam zu halten. Er stieg unter einem Schwall Danksagungen und Adieus aus und ging den Rest des Weges zu Fuß. Ein junger britischer Diplomat, der in den frühen Morgenstunden aus einer offiziellen sowjetischen Limousine vor einem Ausländerwohnhaus steigt – das könnte zu Missverständnissen führen, sollte einer seiner Kakao schlürfenden Kollegen es zufällig bemerken. Dies würde das kleine Geheimnis meines Vaters bleiben, sein geheimes Leben mit seinen russischen Freunden, das ihm niemand in der Botschaft wegnehmen konnte.

    Meine erste Wohnung in Moskau war eine schäbige kleine Bude direkt um die Ecke der Sam-Sad; von meinem Fenster aus konnte ich dieselbe Kreuzung sehen, eingehüllt in graue Abgaswolken. Abends ging ich den Zwetnoiboulevard entlang, allein. Keine Schlägertypen folgten mir.
    Meine Arbeitsstelle in Moskau war in der Uliza Prawdi, was so viel bedeutet wie »Straße der Wahrheit«. Jeden Morgen hielt ich ein vorbeifahrendes Auto an, verhandelte kurz mit dem Fahrer über den Fahrpreis von zwei Dollar und wurde zur Arbeit gefahren. An manchen Tagen stoppte ein polierter schwarzer Audi der Regierung mit getönten Scheiben, manchmal ein Krankenwagen und einmal sogar ein Armeelaster voller Soldaten. Wie auch immer, jedenfalls rollte oder holperte ich an der Sadowo-Samotechnaja vorbei, in nördlicher Richtung den Leningradsky Prospekt entlang. Das alte Prawda -Gebäude, in dem die Moscow Times ein halbes Stockwerk

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