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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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kecke Mützen und gestreifte Hemden trug. Der andere war sein stillerer Cousin Waleri Golowister, ein großer Ballettliebhaber und einige Jahre jünger als Schein. Die drei jungen Männer gingen den Gogolewskiboulevard hinunter, vertieft in ein ernstes Gespräch über ihr Leben. Als Mervyns allzu kurze Woche in Moskau um war, tauschten sie Adressen aus. Allen Beteiligten schien es sehr unwahrscheinlich, dass sich das Wunder der Festspiele je wiederholen würde oder dass Mervyn je wiederkommen dürfte. Und die Vorstellung, die beiden Waleris könnten je die Chance haben, England zu besuchen, erschien vollkommen abwegig, ja lächerlich. In gewisser Weise hatten sie recht: Moskau stand erst 1980 anlässlich der Olympischen Spiele wieder großen Scharen Ausländern offen.
    Doch im darauffolgenden Jahr, 1958, erfuhr Mervyn von einem Stellenangebot in Moskau. Die Stelle war zwar in der britischen Botschaft, und er würde das hermetisch abgeschlossene Leben eines Diplomaten führen müssen, abgeschirmt vom wirklichen russischen Leben, das er während der Festspiele kennengelernt hatte. Doch der bescheidene Posten in der Forschungsabteilung würde ihn zumindest wieder nach Russland bringen.
    Mervyn bewarb sich auf die Stelle, organisierte ein Jahr Auszeit vom St Anthony’s, und bald schon lag eine schriftliche Zusage auf dem Briefpapier des Außenministeriums in seinem Postfach im College. Um sich gegen den harten Moskauer Winter zu wappnen, kaufte er sich im Co-op von Oxford einen schweren dunkelblauen Mantel, den ich heute noch trage. Und irgendwann im Spätsommer nahm Mervyn eine Dose schwarzer Leinölfarbe und machte sich daran, seinen schicken neuen Überseekoffer ordentlich mit den Worten »W. H. M. Matthews, St Antony’s College, Oxford, АНГЛИЯ« zu beschriften, das letzte Wort in fetten kyrillischen Buchstaben, die keinen Zweifel über den Bestimmungsort des Koffers aufkommen ließen.

    Menschen, die ihre Heimat verlassen und hinaus in die Welt ziehen, treiben so lange herum, bis sie den Platz finden, der zu ihnen passt. Nach meiner ersten Woche in Moskau im April 1995 wusste ich, dass ich meinen Platz in der wilden, schmutzigen Rauheit der Stadt gefunden hatte. Ich dachte: Wenn dies nicht die wahre Welt ist, dann gibt es keine wahre Welt.
    Das Russland, das ich kannte, hatte sich mit dem Chaos des Jahrhunderts infiziert. Die Inkubationszeit war lang, doch plötzlich, ohne jede Vorwarnung, brach das ganze marode Gebilde unter dem Gewicht seiner eigenen Heuchelei und Dysfunktionalität zusammen. Für die Russen war der Schock der Implosion dieses Systems, das für jedes ihrer körperlichen, geistigen und intellektuellen Bedürfnisse gesorgt hatte, tiefgreifender als alles, was ihnen das sowjetische System je zugemutet hatte – tiefgreifender selbst als die Säuberungen, selbst als der Zweite Weltkrieg. Jene Schrecken waren wenigstens leicht zu begreifen. Doch nun traf sie etwas, das vollkommen unerklärlich war – kein Feind, sondern ein Vakuum. Nichts blieb ihnen als ihr Russentum, das starke Gefühl, russisch zu sein, das sie zusammentrieb wie umherstreifende Soldaten in einem Schneesturm.
    Der junge Universitätsdozent Mervyn 1957, kurz nach Erhalt seines Nachwuchsforschungsstipendiums am St Antony’s College.

    Die Menschen reagierten ganz unterschiedlich. Blinzelnd wie Überlebende eines Erdbebens fanden manche ihren neuen Gott in Geld, Sex, Drogen, nationalistischen Fantasien, Mystizismus, charismatischen religiösen Sekten. Andere entdeckten den strengen alten, orthodoxen, allrussischen Gott wieder. Manche, wie besessen von einem ziellosen Rausch, raubten aus den Ruinen Plunder und Fetzen und suchten so ihr Glück. Andere wiederum, die bald schon die neuen Herren des Landes werden sollten, ignorierten die Fetzen und stürzten sich auf die Schätze.
    Und doch, trotz aller im Inneren lauernden Gefahren, lebten die meisten Russen ihr Leben nach außen hin auf gut Glück, auf spirituellen Kredit einfach weiter. In anderen Ländern haben Traumata solchen Ausmaßes die Gesellschaft zerrissen und in jahrzehntelange Gewissensprüfungen versetzt. In Russland aber hatte das Zusammenwirken von Fatalismus und Apathie die Folge, dass das Land mit kaum mehr als einem kollektiven resignierten Achselzucken reagierte und sich weiter dem mühseligen Geschäft des Überlebens widmete.

    Als ich nach Moskau kam, war ich verzweifelt. Nach meinem Abschluss in Oxford hatte ich mich zwei Jahre lang glücklos in Prag und

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