Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
als hinterhältiger Lügner, weil ich so vehement leugnete. Wie eine Meute Bluthunde witterten die Jungs meine Verzweiflung und spürten, dass etwas nicht stimmte. Hatte ich wirklich etwas zu verbergen? Wenn ich so aufgebracht war, musste ich ja ein Roter sein, und das musste sehr schlimm sein. Eine Schlägerei folgte, und ich rannte mit einem blauen Auge nach Hause. Von da an weigerte ich mich fast drei Jahre lang, zu Hause Russisch zu sprechen.
1950 bestand Mervyn die A-Levels in Russisch und bekam einen Studienplatz in der neu gegründeten russischen Fakultät der Universität Manchester. Er war überglücklich, endlich aus Hafod Uchtryd und von seiner Mutter wegzukommen. Inmitten der dichten Nebel und stumpfen Vokale von Manchester widmete er sich dem Studium des Russischen und brachte es zu beeindruckender Meisterschaft. Als er seine Abschlussprüfungen machte, hatte er sich durch alle 1200 Seiten von Krieg und Frieden im Original gekämpft, ein spektakulärer masochistischer Akt, den er oft hinsichtlich meiner eigenen, weniger erfolggekrönten Anstrengungen, des geschriebenen Russisch Herr zu werden, erwähnte.
Mein Vater schloss das Studium in Manchester mit einer Bestnote ab, und seine Studienleiter empfahlen ihm ein Aufbaustudium in Oxford. Das St Catherine’s, das neueste College der Universität, sei genau der richtige Ort für einen klugen jungen Kerl aus Südwales, der intellektuell brillierte, aber noch keinen gesellschaftlichen Schliff hatte, so dachten sie berechtigterweise. Das St Catherine’s war eine dynamische Institution, hatte aber noch nicht den heutigen modernistischen Campus bezogen, den Mervyn, der in Fragen der Architektur ebenso konservativ ist wie in so vielen anderen Dingen, verabscheut. Als er zum ersten Seminar erschien, fragte sein neuer Tutor höflich, ob Englisch die Muttersprache des jungen Walisers sei.
Trotz solcher Schwierigkeiten blühte Mervyn auf, arbeitete hart und mied seine bierseligen Kommilitonen am College. Nach zwei Jahren am Catz bot man ihm ein Nachwuchsforschungsstipendium am St Anthony’s an, einem weitaus angeseheneren College, an dem die besten Sowjetunionexperten Großbritanniens lehrten. Es war ein wesentlicher Schritt auf seinem Weg zum ordentlichen Professor. Faktisch stand Mervyn nur dank harter Arbeit kurz davor, es in der schnell wachsenden Branche der Sowjetologie zum gemachten Mann zu bringen, als einer der vielen klugen jungen Männer, die damals auf die seltsamen Machenschaften des im Osten aufsteigenden roten Weltreichs spekulierten.
Doch es genügte ihm nicht, aus der Ferne auf dieses seltsame Land zu blicken. 1957 bot sich ihm unerwartet die Gelegenheit, Russland zu besuchen, was in den vergangenen 20 Jahren unvorstellbar gewesen war und nur akkreditierten Diplomaten und einigen wenigen Journalisten gestattet wurde. In Moskau fanden die Weltfestspiele der Jugend und Studenten statt, mit jungen Gästen aus der großen Gemeinschaft der sozialistischen Staaten (der sich das von Battista kontrollierte Kuba erst noch anschließen würde) und überraschenderweise auch aus den »progressiven Elementen« der degenerierten kapitalistischen Länder. Mervyn meldete sich an. Zu seiner großen Überraschung wurde ihm die seltenste aller offiziellen Gnaden gewährt: ein sowjetisches Visum.
Die Festspiele waren sorgfältig geplant und streng kontrolliert, doch Mervyn und die 600 Studenten aus dem Westen, die daran teilnahmen, tauchten wie im Rausch in diese Welt ein, die sie so lange studiert hatten. Mervyn war so aufgeregt, dass er kaum schlief. Allerdings musste er feststellen, dass er die gemeinschaftlichen Gesänge und fahnenschwenkenden Paraden durch Stadien voller jubelnder junger Kommunisten instinktiv verabscheute. Die Moskauer waren nicht minder berauscht. Die jungen Westler wirkten auf sie so exotisch wie mythische Wesen, zumal in den vergangenen 20 Jahren jeglicher Kontakt zu Ausländern hinlänglich Grund für einen Aufenthalt im Gulag geliefert hatte. Einige der anwesenden afrikanischen Genossen nutzten die Gelegenheit zur Verbrüderung in einer Weise aus, die die Behörden so nicht vorhergesehen hatten, und zeugten eine ganze Generation Mischlinge, die fortan die »Kinder der Festspiele« genannt wurden.
Mervyn lernte zwei kühne junge Männer kennen, die die freiheitliche Stimmung des Festivals ausnutzten, um mit Ausländern zu reden. Einer war ein teuflisch gut aussehender junger jüdischer Theaterstudent namens Waleri Schein, der
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