Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
Vom Netzwerk:
Fußgängern auf eine Gelegenheit, den 16-spurigen Prospekt zu überqueren. Selbst als wir uns dem Stadtzentrum näherten, lag über diesen endlosen windigen Flächen noch ein Gefühl der Steppe.

    Als mein Vater zum ersten Mal nach Russland kam, muss es ganz anders gewesen sein. Die Seele der Stadt war stolzgeschwellt nach dem Sieg, nicht erschöpft und ausgelaugt. Das Moskau, das er kannte, war makellos – die sorgfältig geplante Hauptstadt eines wachsenden Imperiums, ein kontrollierter, beklemmender Ort, nicht das heillose Chaos, in das es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion versinken sollte. Und emotional war für meinen Vater die Distanz größer. Für eine Generation, die das Reisen nicht gewohnt war, hätte Russland auch auf einem anderen Planeten liegen können. Doch Mervyn hätte nicht glücklicher sein können. Er hatte sich endlich von zu Hause gelöst und war auf dem Weg an einen Ort, der zu ihm passte.

    Die Zeit und die Stadt waren für einen jungen Mann, der Russland liebte und – Fluch oder Segen – stark zum Eigensinn neigte, voller Fallgruben. Der Kalte Krieg ging seinem Höhepunkt entgegen. Sowjetische Panzer hatten gerade erst den Aufstand in Ungarn niedergewalzt, und im Westen zweifelten nur wenige daran, dass der Sozialismus nach der Weltherrschaft strebte. Es war eine Zeit, in der die Welt sauber nach moralischen Absoluten aufgeteilt war, in der gegnerische Mannschaften Pullover in verschiedenen Farben trugen und die nuklearen Handicaps im Programm aufgelistet wurden.
    Heute ist es schwer, sich vorzustellen, wie spannend und geheimnisvoll es gewesen sein muss, in der verschlossenen Hauptstadt einer feindseligen Parallelwelt zu leben. Das Moskau, das mein Vater kannte, und das Russland, in dem ich lebte, trennte nicht nur ein halbes Leben, sondern vor allem ein Erdrutsch der Geschichte. Die Generation meines Vaters definierte ein ideologischer Graben, der sich durch die ganze Welt zog, und aus Gründen, die ich erst zu verstehen begann, als ich selbst 30 Jahre später nach Russland zog, setzte er alles daran, auf der anderen Seite dieses Grabens zu leben. Für die Kalten Krieger der Botschaft, mit denen er arbeitete, und wohl auch für Mervyn selbst war Moskau das Herz aller Finsternis in der Welt.

    Es gibt ein Foto von meinem Vater, das ich zum ersten Mal sah, als er mir Ende 1999 auf der Treppe unseres Londoner Hauses kommentarlos ein Exemplar seiner Memoiren gab, ehe er sich mit einem verlegenen Lächeln zurück in sein Arbeitszimmer ging. Das Foto zeigt einen überraschend attraktiven jungen Mann mit leicht schiefem Schlips und Kragen, irgendwann im Frühherbst 1958 auf dem Balkon der Diplomatenwohnung in der Sadowo-Samotechnaja-Straße, die damals wie heute von den Bewohnern »Sad-Sam« genannt wurde. Verträumt und etwas verlegen blickt er über die Schulter des Fotografen, irgendwo über den Gartenring hinweg, der damals noch nicht im Verkehr erstickte. Er wirkt wie ein ernsthafter Kerl, der gefallen will und ein bisschen unsicher ist. Das Foto wurde kurz nach seiner Ankunft in Moskau gemacht. Er war 27 Jahre alt, hatte eine vielversprechende akademische Laufbahn vor sich und war überglücklich, in der Sowjetunion zu sein. Das große Abenteuer seines Lebens nahm gerade seinen Anfang.
    Mervyn führte ein angenehmes Leben – oder, nach sowjetischem Standard, ein Leben in wahrem Luxus. Er teilte sich eine Vierzimmerwohnung mit Robert Longmire, einem weiteren jungen Angestellten der Botschaft. Netzstecker und Elektrogeräte waren aus England importiert, und auf dem Telefon stand »Gespräche auf dieser Leitung sind NICHT SICHER«. Sie hatten eine nachlässige Putzfrau namens Lena und eine sibirische Katze namens Schura und besorgten sich in dem kleinen Laden der Botschaft Annehmlichkeiten wie Whisky und Vollkornkekse. Der Smoking, den Mervyn sich gekauft hatte, als er nach Oxford ging, kam auf den diplomatischen Cocktailpartys, die er unsäglich ermüdend fand, ständig zum Einsatz.
    Körperlich war mein Vater zwar in Moskau, doch er musste schon bald feststellen, dass er und die übrigen Ausländer gezwungen waren, strikt getrennt von den sie umgebenden Russen zu leben.
    Sein Akzent und seine ausländische Kleidung sorgten für Beunruhigung und Verwunderung in Läden und Straßenbahnen. Mit seinen Freunden von den Weltfestspielen Kontakt aufzunehmen war unvorstellbar gefährlich – nicht für Mervyn, aber für sie. Jede seiner Bewegungen wurde von Scharen KGB-Beamter in

Weitere Kostenlose Bücher