Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
angemietet hatte, ist ein schmuddeliger konstruktivistischer Klotz, der sich inmitten von mit verfallenden Lagerhäusern gesäumten Seitenstraßen duckt. In 15 Minuten war ich dort und lief die Treppe hinauf zu dem höhlenartigen Redaktionsraum.
Die Zeitung wurde von aufgeweckten jungen Expats geführt, überwiegend Amerikanern. Sie gehörte einem kleinen Holländer, einem einstigen Maoisten, der auch die russische Ausgabe der Cosmopolitan und des Playboy verlegte. Die meisten meiner neuen Kollegen waren gut ausgebildete russische Hochschulabsolventen, alle intelligent, freundlich und enthusiastisch. Meine Einführung bei der Zeitung war kurz. Während meine ernsteren Kollegen sich an Kreml-Intrigen und dem Zustand der Wirtschaft abmühten, wurde ich mit der unbestimmten Anweisung losgeschickt, skurrile Geschichten im menschlichen Dschungel der Großstadt zu sammeln. Für einen 24-Jährigen mit exakt zwei Jahren eher bescheidener journalistischer Erfahrung war dies ein kleines, aber bemerkenswertes berufliches Wunder. Ganz unerwartet stellte ich fest, dass ich die lärmenden, chaotischen, ungeheuerlichen, entsetzlichen Schattenseiten Moskaus mehr oder weniger für mich allein hatte.
Mitte der Neunzigerjahre war Moskau vulgär, korrupt und brutal. Es war manisch, obszön, laut und vom Mammon besessen. Aber vor allem fand ich fast alles unglaublich lustig. Alles, von der Marotte der neuen Russen, den »UV-Schutz«-Aufkleber auf der Sonnenbrille zu lassen, bis hin zu ihrer Angewohnheit, einander Ölgesellschaften zu klauen, Dynamit unter Autos zu legen und Schießereien auf öffentlichen Plätzen zu inszenieren, fand ich komisch. Hatte man erst einmal genug vom alles durchdringenden Zynismus des Landes in sich aufgenommen, dann war sogar eine Tragödie auf finstere Weise amüsant. Soldaten sprengten sich in die Luft, weil sie wegen der Leiterplatten aus Gold die Sprengköpfe von Boden-Luft-Raketen aufklopften. Krankenwagenfahrer verbrachten ihre Arbeitstage damit, schwarz als Taxifahrer zu arbeiten. Polizisten fungierten als Zuhälter und lieferten die Mädchen im Streifenwagen an ihre Kunden.
Der russische Präsident hüpfte auf einer Bühne in Berlin herum und dirigierte betrunken ein Orchester. Russische Kosmonauten reparierten ihr Raumschiff mit einem Schraubenschlüssel und Klebeband, wenn sie nicht gerade Werbespots für israelische Milch und Brezeln filmten und Wodka in Dosen tranken, auf denen »Material zur psychischen Unterstützung« stand. Mädchen, die nach 15 Minuten alkoholisiertem Gespräch in einem Nachtklub mit einem nach Hause gingen, waren tödlich beleidigt, wenn man zum zweiten Date keine Blumen mitbrachte. Gogol hat die verkommene Verrücktheit Russlands am besten eingefangen – das albtraumartige Gefühl der Entwurzelung, die wahnsinnigen, intriganten kleinen Menschen, die kleinkarierten Eitelkeiten, die gemeine Trunkenheit, die geifernde Speichelleckerei, die diebischen, inkompetenten, rüpelhaften Bauern.
Wie sicherlich meinem Vater vor mir kam mir Russland nicht nur wie ein anderes Land, sondern wie eine andere Wirklichkeit vor. Die äußere Erscheinung der Stadt war sehr vertraut – die weißen Gesichter, die westlichen Ladenfronten, die neoklassizistische Architektur. Doch die europäische Kruste verschärfte lediglich das Gefühl der Andersartigkeit. Die Verzerrung des Vertrauten war nicht beruhigend, sondern erst recht verstörend. Moskau fühlte sich so surreal an wie ein kolonialer Außenposten, an dem ein ferner Herrscher verbissen versucht hatte, imperiale Architektur und europäische Mode einzuführen. Unter all diesen Allüren war das Herz der Stadt ungestüm und asiatisch.
Einer meiner ersten Aufträge bestand darin, über Moskaus erste Annual Tattoo Convention zu berichten. Der Fachkongress wurde im verwirrten Moskau ganz konservativ als kulturny festival betitelt. Im Grunde aber war es ein Stammestreffen der Alternativen der Hauptstadt, eine ausgelassene, heidnische Orgie der Nonkonformität. Ein Schwall aus Körperausdünstungen schwappte mir aus dem dunklen Eingang zum Club Hermitage entgegen, angetrieben von dröhnendem Punkrock. Drinnen in den beiden Haupträumen stand der widerliche Rauch billiger sowjetischer Zigaretten, in dem bei schummerigem Licht halb nackte, überwiegend männliche Körper wogten. Moskaus Punks, Skinheads, Biker und ein paar kulturell verwirrte Hippies waberten in einer gewaltigen stinkenden Masse, die sich zu frenetischem Pogo steigerte, vor
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