Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
der Bühne, auf der vier Punks, denen der Irokesenschnitt am verschwitzten Kopf klebte, schlechte Coverversionen der Sex Pistols hämmerten.
Ein andermal fand ich mich abends im Dolls wieder, einer angesagten protzigen Stripbar, in der jugendliche Akrobaten nackt auf den Tischen tanzten. Paul Tatum, ein prominenter amerikanischer Geschäftsmann, war auch da. Er saß allein mit seinem Drink auf einem der Barhocker am Bühnenrand. Tatum war so etwas wie eine lokale Berühmtheit, weil er seit geraumer Zeit mit einer Gruppe Tschetschenen über das Geschäftszentrum des Hotels Radisson-Slawjanskaja verhandelte. Ich grüßte ihn, als wir hereinkamen, doch er wirkte abwesend und sein üblicher Optimismus aufgesetzt. Wir plauderten eine Weile über die »Freedom Bonds«, die er ausgegeben und an seine Freunde verkauft hatte, um die nötigen Finanzmittel für seinen Rechtsstreit mit den Tschetschenen aufzubringen.
Zu uns gesellte sich noch Joseph Glozer, der Besitzer des Klubs, der sich halb im Scherz und mit schwerem brooklyn-russischen Akzent beklagte, wie schwer es sei, in dieser Stadt auf ehrliche Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Tatum schien lieber Mädels anzusehen, und so wünschte ich ihm viel Glück und gesellte mich wieder zu meinen Freunden.
Einen Monat später war Tatum tot. Jemand hatte ihm mit einer Kalaschnikow elf Kugeln in Nacken und Rücken gejagt, als er vor dem Radisson in eine Fußgängerunterführung ging. Tatum hatte an jenem Abend nicht wie sonst seine kugelsichere Weste getragen, doch das hätte ihm ohnehin nichts genützt, weil der Mörder von oben auf ihn geschossen hatte, mitten durch sein Schlüsselbein und seine obere Wirbelsäule. Seine beiden Leibwächter blieben unverletzt. Ein für Moskau klassischer Anschlag. Der Schütze ließ seine Kalaschnikow fallen und verschwand in aller Ruhe. Ein paar Stunden später gab die Polizei die Standardaussage heraus, sie vermuteten, »der Mord stehe in Zusammenhang mit den professionellen Aktivitäten des Opfers«.
Bald war ich die einzige lebende Person, die sich noch an unser flüchtiges Zusammentreffen an jenem Abend im Dolls erinnerte. Joseph Glozer erwischte es ebenfalls, nur wenige Monate nach Tatum. Er kam gerade aus dem Dolls, als er eine einzige Kugel seitlich in den Kopf bekam, abgefeuert von der anderen Straßenseite. Der Schütze war sich seiner Sache so sicher, dass er nicht noch einmal schoss.
Nicht lange danach interviewte ich für einen Artikel über Moskaus Bestattungsunternehmen einen Leichenbestatter, der sich darauf spezialisiert hatte, die Leichen von Mafiaopfern für die Aufbahrung im Sarg zusammenzuflicken. Der Mann trug unter seinem fleckigen Laborkittel ein Hawaiihemd und sprach mit derselben Hingabe, mit der ein Ballettliebhaber über seine liebsten Aufführungen spricht. Der Mord an Glozer, sagte er voll tiefer Bewunderung, sei einer der besten, saubersten Morde gewesen, die er je gesehen habe. Der fröhliche Leichenbestatter war ein wahrer Held seiner Zeit. Sein Zynismus war leichtfüßig, und er nahm die Schrecklichkeiten, mit denen er täglich konfrontiert wurde, mit so viel Humor, dass sie ihn nicht berühren konnten. Meine Kollegen bei der Moscow Times und ich, so wurde mir klar, waren ebenfalls Leichenbestatter, trugen Laborkittel über unseren Hawaiihemden und trugen eine gespielte Kennerschaft zur Schau, wenn es um Moskaus schaurige Bösartigkeit ging.
Der Frühling kam über Nacht Ende April, wenige Wochen nach meiner Ankunft. Noch am Abend zuvor hatte winterliche Kälte in der Nachtluft gelauert, obwohl die letzten hartnäckigen Reste schmutzigen Schnees bereits in der vorangegangenen Woche endlich geschmolzen waren. Die Rasenflächen waren kahl und struppig, und die Erde roch bitter und tot. Doch als ich am nächsten Morgen aufwachte, war der Himmel strahlend blau, die vorsichtigen Knospen, die schon seit Tagen hervorkamen, waren plötzlich alle aufgeplatzt, und der Boulevard roch unverkennbar nach Leben. Bis zum Abend hatte sich der Frühling fest in der ganzen Stadt niedergelassen.
Wie Schmetterlinge ihren Kokon warfen die Mädchen die Wintermäntel ab und schwärmten in Miniröcken und hochhackigen Schuhen auf die Straßen. Sonntags spazierte ich gerne auf den Kieswegen des Zwetnoiboulevards zum Gartenring. An der Sad-Sam wandte ich mich zum Majakowskiplatz und ging zum American Bar and Grill. Dort war meist eine Schar Angestellte der Moscow Times versammelt und tauschte in einer Wolke aus
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