Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Zigarettenrauch halb versteckt hinter raschelndem Zeitungspapier und den Resten von Eggs Benedict den neuesten Tratsch aus. Nun hatte ich es endlich, sagte ich mir, das Leben eines Auslandskorrespondenten: der Glamour, die Mädchen, das Saufen, die lässigen Kollegen, die Kameradschaft unter jungen Männern fern der Heimat in einer seltsamen und wunderbaren Stadt. In Wahrheit aber war mir deutlich bewusst, selbst damals schon, dass ich die aufregendsten und abenteuerlichsten Tage meines Lebens erlebte. In Gegenwart meiner Kollegen jedoch verbarg ich meine Freude natürlich sorgfältig unter einer gepflegten Schicht lebensüberdrüssiger Leichtfertigkeit.
***** »Fuzzi Wuzzi« ist eine von den englischen Besatzern zur Zeit des Mahdi-Aufstands (1881–1899) geprägte Bezeichnung für die Hadendoa, die bis in die Siebzigerjahre auch im deutschen Sprachraum für einen kriegerischen Volksstamm im Gebiet Sudans stand.
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Wodka mit dem KGB
Nicht das Eis macht Angst, sondern das, was darunter ist.
Alexei Sunzow zu Mervyn, 1961
Langweilige Berichte über das höhere Bildungssystem der Sowjetunion in der Botschaft zu verfassen verlor schnell seinen Reiz. Die neue Welt, die Wadim ihm eröffnet hatte, war das Russland, das Mervyn eigentlich erleben wollte, das aufregende, romantische Land, von dem er geträumt hatte, wenn er sich nach der Schule fleißig Russisch beibrachte und sich durch Krieg und Frieden kämpfte. Russland mit seiner Wärme und Weite, seiner Unberechenbarkeit und Begeisterung ging ihm ins Blut. Und damit auch Leichtfertigkeit und mit der Leichtfertigkeit eine Art Befreiung.
Ein Freund aus Oxford bat Mervyn in einem Brief um einen kleinen Gefallen. Er arbeitete an einer Gedichtsammlung von Boris Pasternak, dem Autor von Doktor Schiwago , und benötigte einige der Frühwerke des Autors, die nur in der Lenin-Bibliothek in Moskau verfügbar waren. Er bat Mervyn, die Gedichte zu kopieren und nach Oxford zu schicken. Dabei gab es aber ein kleines Problem. Wenige Monate zuvor, im Oktober 1958, war Pasternak für seinen Roman Doktor Schiwago der Nobelpreis für Literatur verliehen worden, doch auf Druck des Schriftstellerverbands, der ebenso wie die Partei den Roman als eine verderbliche Verherrlichung des vorrevolutionären Russland betrachtete, war er gezwungen, den Preis abzulehnen. Tatsächlich hatte lediglich sein internationaler Ruhm Pasternak vor dem Gulag bewahrt. Unveröffentlichtes Material des Schriftstellers aus der Sowjetunion zu schmuggeln war gefährlich, wahrscheinlich illegal und ganz bestimmt karrieregefährdend. Mervyn sagte sofort zu.
Mein Vater verbrachte die folgenden beiden Wochen im Professorenlesesaal der Lenin-Bibliothek, wo jeder mit einem Leseausweis Zugang zu den Manuskripten von Pasternak hatte, und fotografierte sie unter dem missbilligenden Zischen der anderen Gelehrten und den scharfen Zurechtweisungen der Bibliotheksaufsicht mit einem kleinen Fotoapparat ab. In zwei aufeinanderfolgenden Wochen schmuggelte er zwei Päckchen mit den ausgedruckten Fotos in die Diplomatenpost der Botschaft, damit sie nicht vom sowjetischen Zoll beschlagnahmt würden.
Eine Woche später erhielt Mervyn feierlich eine Vorladung des Botschaftsdirektors. Zweifellos stand eine handfeste Standpauke an. Hilary King war höflich und herablassend, als er meinen Vater in seinem prachtvollen Büro im Erdgeschoss der Botschaft empfing. Doch King war vom Außenministerium in London, wo der Inhalt der Diplomatenpost untersucht wurde, über Mervyns inoffizielle Päckchen informiert worden. Die Botschaft sei sehr empfindlich, was Beschwerden von sowjetischer Seite betreffe, begann King mit beißender Höflichkeit. Es drohten größte Schwierigkeiten, sollten die Sowjets je von Mervyns heimlichen Fotos der Werke eines verbotenen Schriftstellers erfahren.
Ich kann mir den Gesichtsausdruck meines Vaters gut vorstellen, als er schäumend die Botschaft verließ. Ich habe ihn oft gesehen, eine unterdrückte Aggression, die sich schließlich irgendwann in Zornesausbrüchen Luft macht, nachdem sie einige Stunden oder Minuten unter einer Fassade eisiger Freundlichkeit gebrodelt hat. Mervyn hatte sich klugerweise bei King entschuldigt. Doch der Zorn war da, aufgestaut in seinem Inneren, auf das Außenministerium, das sich so bereitwillig den kleinkarierten verwaltungstechnischen Vorgaben der Sowjets fügte. Er wurde für eine Tat zurechtgewiesen, die jedem außerhalb der Zwergenwelt der diplomatischen Bürokratie als
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