Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
überaus richtig erschienen wäre, und das wurmte ihn mächtig. Mervyn ging innerlich kochend über den dicken Teppich des Flures entlang zu seinem winzigen Büro im ehemaligen Stallgebäude im hinteren Teil der Botschaft.
Kurze Zeit später wurde in der unendlich subtilen Weise, mit der die Botschaft ihr Missfallen zum Ausdruck bringt, ein niederer Funker in Mervyns Wohnung einquartiert. Robert Longmire bekam eine eigene Wohnung. Dann wurde Mervyn der Zuschuss für die Putzfrau gestrichen.
Es war höchste Zeit zu springen. Eine Anzeige in einer Luftpostausgabe der Times kam wie ein Rettungsanker. Darin wurde das erste Graduiertenaustauschprogramm zwischen der Sowjetunion und Großbritannien angekündigt. Das war die Gelegenheit, auf die Mervyn gewartet hatte. Nun würde er endlich das kalte Lächeln in der Botschaft gegen miefige Korridore in Studentenwohnheimen und – vielleicht – Freiheit von den allgegenwärtigen KGB-Schlägerypen tauschen können. Aber es gab ein Problem. Mervyn war ein akkreditierter Diplomat – auch wenn sein Name ganz unten auf der Moskauer Diplomatenliste von 1958 stand –, und es war höchst unwahrscheinlich, dass das sowjetische Außenministerium seinem plötzlichen Wechsel zum Status eines bescheidenen Akademikers glauben würde. Mervyns erster Schritt bestand darin, sich selbst von der zugangsbeschränkten Liste für vertrauliche Dokumente zu streichen und seine Unbedenklichkeitsbescheinigung loszuwerden. Die Botschaft schien ihn nur zu gern um beides zu erleichtern. Die Unterlagen, mit denen Mervyn sich für das Austauschprogramm bewarb, wurden von der Botschaft genehmigt und ordnungsgemäß an das Außenministerium abgeschickt. Und ordnungsgemäß, nach eingehender Überlegung, abgelehnt.
Bei Schaschlik und Wodka schüttete Mervyn in einem aserbaidschanischen Restaurant Wadim sein Herz aus. Der Russe nickte mitfühlend und schenkte bedächtig Wodka nach, während Mervyn von der Unnachgiebigkeit des Ministeriums berichtete.
»Zieh keine voreiligen Schlüsse, Mervyn«, beruhigte Wadim seinen Freund. »Ich werde sehen, ob mein Onkel helfen kann.«
Mervyn fühlte sich sofort viel besser. Wadim mit seinen mysteriösen einflussreichen Freunden mit ihren SiLs und Datschas würde sicherlich in der Lage sein, das Ministerium zu überzeugen, seine kollektive Meinung zu ändern. Wadim sagte nichts darüber, was von Mervyn als Gegenleistung erwartet werden würde. Sie stießen auf Mervyns Zukunft als sowjetischer Student und Freund des sowjetischen Volkes an.
»So, Sie gehen also an die Staatliche Universität Moskau.« Der Botschafter, Sir Patrick Reilly, war freundlich, trotz der Störungen in Mervyns kurzer Botschaftslaufbahn, als sein Nochangestellter sich verabschieden kam. »Höchst ungewöhnlich. Ich frage mich, warum Ihnen das Ministerium die Genehmigung dazu gewährt hat.«
Langes Schweigen folgte. Es war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, die Geschichte von Wadim und seinem Onkel, ihren Abenden in der Stadt mit seinen neuen Freunden und dem unerklärlichen Geisteswandel des Ministeriums zu erzählen. Mervyn sagte nichts. Als der Botschafter keine Antwort erhielt, reichte er Mervyn die Hand. »Nun, dann viel Glück.«
Um die verbleibenden Urlaubstage zu nutzen, die ihm von der Botschaft noch zustanden, unternahm Mervyn eine Reise ins sowjetische Zentralasien. Eine Frau in der Botschaft, deren Aufgabe es war, vertrauliche Dokumente in einem Eisentopf zu verbrennen, gab ihm den Tipp, von Samarkand und Taschkent aus lohne sich ein Abstecher nach Buchara. Mervyn sprach aufgeregt mit Wadim über seine Reisepläne, doch der zeigte sich unbeeindruckt von der Begeisterung seines englischen Freundes für historische Stätten. Mervyn flog mit einer Reihe kleiner, aber robuster Aeroflot-Flugzeuge nach Osten. Buchara sollte die letzte Station der Reise sein.
Die Wüstenstadt erwies sich als kalt und abweisend. Eine lange Reihe Lehmhäuser duckte sich entlang der Straße zum Flughafen, die in Richtung Zentrum neuen, doch bereits heruntergekommen aussehenden sowjetischen Betonblocks wichen. Der Taxifahrer, ein Jude aus Buchara, plauderte die ganze Strecke über das brandneue Intourist-Hotel. Als sie ankamen, beschwerte er sich über Mervyns schweren Koffer und erhöhte den ohnehin schon exorbitanten Fahrpreis. Das Hotel war tatsächlich neu, aber als er sich durch die Türen schob, bemerkte Mervyn, dass es drinnen kälter war als draußen. Die Rezeptionistin hatte
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