Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
in einem Land geboren zu sein, das zu durchqueren einst ein halbes Jahr dauerte; eine chronische Resignation gegenüber den Launen der Behörden, die der historischen Unmöglichkeit entspringt, mit den Außenposten eines so unregierbar riesigen Reiches zu kommunizieren. Als ich über den berühmten ukas las, den Erlass Peters des Großen, mit dem er seinen Untertanen wütend befahl, allen vorangegangenen ukasy zu gehorchen, stellte ich mir den Zaren als wahnsinnigen Funker vor, der beleidigte Botschaften in den Raum schickt und als Antwort nur schwache kosmische Echos erhält.
Telefonleitungen, Satellitenfernsehen und Aeroflot scheinen Russland näher zusammengebracht zu haben, doch in mancher Hinsicht vertieft die elektronische Kommunikation nur das Gefühl der unüberwindlichen Entfernung. Russland bleibt das größte Land der Welt; selbst nach dem Verlust von 17 Prozent seines Territoriums nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erstreckt es sich noch immer über elf Zeitzonen. Ein ehemaliger Kameramann des Staatsfernsehens erzählte mir einmal, das Fernsehsignal von Wremja , der sowjetischen Nachtausgabe der Nachrichten, müsse mehrfach an der Stratosphäre reflektiert werden, um die 70 Prozent Erdkrümmung zwischen Moskau und Tschukotka am fernöstlichen Rand des Landes auszugleichen. Mitte der Neunzigerjahre konnte man problemlos direkt mit Kamtschatka oder Magadan am Pazifik telefonieren, doch die Zeitverschiebung war fast so groß wie nach New York. Der letzte Abschnitt der Autobahn, die das europäische Russland mit Fernost verbindet, wurde erst 2002 fertiggestellt – vorher verliefen Hunderte Kilometer improvisierter Straße über das Eis des zugefrorenen Amur und waren nur im Winter passierbar.
Kein Wunder also, wenn die meisten Menschen, die in diesen großen, leeren Weiten geboren werden, mit einem instinktiven Gefühl der Hilflosigkeit angesichts der unmöglichen physischen Realitäten aufwachsen, die ihr Leben definieren. Physische Grenzen scheinen die Zwänge der menschlichen Existenz erträglicher zu machen. »Der Zar ist weg und der liebe Gott hoch oben«, lautet ein altes russisches Sprichwort, und es kann kein Zufall sein, dass eine der zentralen Lehren der russisch-orthodoxen Kirche die smirenije ist, die Unterwerfung unter die Last, die Gott den Gläubigen auferlegt hat. Entfernung und Klima scheinen sich feindselig verschworen zu haben, den Geist verdorren zu lassen und den Ehrgeiz aller zu erniedrigen. Nur die Stärksten können widerstehen. Anton Tschechow hat diese Langeweile in seinem Drama Drei Schwestern eingefangen, einer Studie über drei junge Frauen, die von der provinziellen Isolation erdrückt werden und deren jugendliche Hoffnung und Geist langsam, aber unerbittlich durch Russlands unendliche Trägheit ausgelöscht werden. Selbst das Leben in Moskau, wo die intellektuelle Elite vor der Isolation und mittelalterlichen Dunkelheit des Dorfes geschützt ist, scheint auf mächtige, aber nicht greifbare Weise durch die Größe des sie umgebenden Landes definiert zu werden, so wie das Leben an Bord eines Schiffes durchdrungen ist vom Wissen um die tiefe, kalte See rundum.
Alexei und Mervyn flogen im April 1960 nach Sibirien, gegen Ende von Mervyns erstem Semester an der Staatlichen Universität Moskau. Sie reisten in einer Reihe winziger An-24-Flugzeuge über die weiße Weite Russlands. Ihre erste Station war Nowosibirsk, eine neue graue Industriestadt, die sich um eine niedrige zaristische Grenzstadt herum ausbreitete. Im Zentrum standen zusammenfallende Blockhütten und eingesunkene Kaufmannshäuser, in den Außenbezirken reihten sich gleichförmige Wohnblocks an breiten Boulevards. Mervyn fand die Stadt deprimierend und seelenlos, entgegen Alexeis offensichtlich ehrlicher Begeisterung.
Sie reisten weiter nach Bratsk, das damals kaum mehr als eine Barackenstadt war. Jenseits von Bratsk befanden sich ein großer zugefrorener Fluss und ein halb aufgetauter See. Ein großer sozialistischer See, wie Alexei erklärte, erschaffen durch den Willen des Volkes und die Arbeitskraft von einer Million Arbeiter. Den See schloss die gigantische Staumauer aus Beton und Stahl ab, die die Natur zum Wohle des Arbeiterparadieses zähmte.
Sie bezogen ein improvisiertes Intourist-Hotel, eine schäbige Konstruktion inmitten der matschigen Straßen, erbaut für Würdenträger, die in die Stadt gebracht wurden, um das Wunder des Wasserkraftwerks zu bestaunen. Am nächsten Morgen besichtigten sie die
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