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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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darauf, unter die Brücke zu fahren und nachzusehen. Vielleicht spürte er, wie unangenehm das Mervyn war, und so machte Alexei eine abfällige Bemerkung über die Arbeit des MI5 und des MI6, als wollte er andeuten, wenn Mervyn auf der Gehaltsliste stünde, wüsste er schon davon. Mervyn ließ sich auf keine Diskussion ein.
    Als Mervyn ein paar Tage später an der Brücke vorbeifuhr, waren die Hütte und die KGB-Leute verschwunden.

    Wadim organisierte noch einen weiteren Abend in der Datscha seines Onkels. Wie beim letzten Mal fuhren sie in einer SiL hin, doch diesmal brachte Wadim einen befreundeten Skilehrer und drei dicke, aber lebhafte Mädchen mit. Sie liefen nachts unter den Kiefern Ski, und der unbeholfene Mervyn fiel unter dem Kichern der Mädchen immer wieder in die Schneewehen. Vor dem Kamin wärmten sie sich mit Wodka auf und zogen sich dann mit ihrem jeweiligen Mädchen nach oben zurück. Mervyns Partnerin war dick und, wie er annahm, eher etwas älter. Doch sie schien mehr als bereit zu sein, das Bett mit ihm zu teilen, und es wäre unhöflich gewesen abzulehnen.
    Mervyn und Alexei saßen im Separee im Aragwi und sprachen dem Zinandali kräftig zu. Vor ihnen auf dem Tisch standen die Reste eines reichlichen Mahles aus Lammspießen, Lobio, dem traditionellen georgischen Bohnengericht, und chatschapuri , überbackenem Käsebrot. Alexei war ausnahmsweise einmal in Weinlaune und schlug den onkelhaften Ton an, den er manchmal Mervyn gegenüber verwendete. Er habe beschlossen, sich aktiver für Mervyns Karriere zu interessieren, verkündete er. Ob Mervyn gerne reisen würde? Und wenn ja, wohin? Mervyn, hocherfreut, erwiderte ohne nachzudenken: »Mongolei.« »Unmöglich«, sagte Alexei. »Wie wäre es mit irgendwo in der Sowjetunion?« Mervyn schlug Sibirien vor. Alexei war begeistert. Der große Bratsker Staudamm vielleicht? Der Baikalsee? Mervyn war Feuer und Flamme und sagte sofort zu. Darauf brachten sie einen Trinkspruch aus.

    Wann wurde Mervyn klar, dass er zu tief hineingeriet? Er war vielleicht naiv, aber so naiv kann er nicht gewesen sein. Alexeis Verbindung zum KGB wurde immer offensichtlicher – die verächtlichen Bemerkungen über den britischen Geheimdienst, das rätselhafte Verschwinden der Domino spielenden KGB-Männer unter der Brücke, die suggestiven Fragen zu Mervyns politischer Einstellung. Es muss mehr als offensichtlich gewesen sein, dass Mervyn angeworben wurde.
    Ich denke, in Wahrheit haben sie einander nie wirklich verstanden. Alexeis Dogma hinderte ihn daran, den tief verwurzelten Patriotismus von Mervyns Klasse und Generation zu erkennen, in der es als ungehörig galt, das Kino zu verlassen, ehe God Save the King zu Ende war. Und Mervyns Eitelkeit ließ ihn nie ernsthaft hinterfragen, warum Alexei ausgerechnet ihn, einen unbekannten Forschungsstudenten, so beharrlich umwarb und dabei so viel Geld und Zeit investierte. Mervyn muss einfach gewusst haben, dass er mit dem KGB flirtete. Er wusste jedoch nicht, wie gefährlich dieses Spiel werden konnte. Selbst als er der Reise nach Sibirien zustimmte, muss er den starken Verdacht gehabt haben, dass er früher oder später die Rechnung würde bezahlen müssen. Doch die Abenteuerlust – seine lang begrabene Abenteuerlust – siegte. Was auch geschah, es würde aufregend sein. Und war er nicht genau deshalb nach Russland gekommen?

    Wenn man im Winter über Sibirien fliegt, beschleicht einen das gruselige Gefühl, über den Rand der Welt hinausgeflogen zu sein. Die Traumlandschaft aus schneebedeckten Wäldern scheint sich dunkel und ununterbrochen nicht nur bis zum Horizont, sondern darüberhinaus unendlich immer weiter zu erstrecken. Als ich 1995 auf dem Weg in die Mongolei – die mein Vater nie sehen sollte – den Baikalsee besuchte, flog ich in einem winzigen sowjetischen Flugzeug, einer altehrwürdigen An-24, die ihre lange Karriere wohl zu Zeiten meines Vaters begonnen hatte. Die Maschine schlingerte, und das Dröhnen der Propeller übertönte jedes Gespräch, als wir in die Nacht flogen. Hinter uns im Westen erstarb das Licht.
    Solschenizyn nannte das Netzwerk der Gefangenenlager, das sich über die Sowjetunion zog, den Archipel Gulag. Doch in Wahrheit ist ganz Russland ein Archipel, eine Reihe isolierter Inseln aus Wärme und Licht, die einem feindseligen Meer der Leere entrissen wurden. Irgendwo in dieser unermesslichen Weite Russlands liegt ein Schlüssel zum Verständnis Russlands: die Unbestimmtheit und der Fatalismus,

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