Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
und einem beigefarbenen Regenmantel und dankte mir herzlich für die schöne Party. Aus dem Speisesaal drang die Musik einer lärmenden Zigeunerkapelle. »Ich mag solche großen Veranstaltungen nicht so«, erklärte er und machte sich im abendlichen Nieselregen allein auf den Weg zu unserem Haus.
Schmales Revers, gestrickte Krawatte, Gauloises aus dem Laden der Botschaft: Mervyn unterwegs in Moskau, 1959.
Schon bald nach Georges’ Verlobungsparty lud Wadim Mervyn zum Abendessen im Restaurant Praga ein. Er wollte sein gerade erworbenes Diplom in Orientalistik feiern. Die anderen Gäste waren überwiegend ältere Akademiker, Wadims Betreuer und Abteilungsleiter. Doch Mervyn gegenüber saß ein elegant gekleideter Mann, etwa fünf Jahre älter als er, mit einer auffälligen grauen Strähne im zurückgekämmten Haar. Wadim flüsterte Mervyn zu, der Mann heiße Alexei und er sei ein »Forschungsassistent« seines mysteriösen Onkels. Doch er stellte sie einander nicht vor, und sie sprachen nicht miteinander. Alexei brachte einen langen, geistreichen Trinkspruch aus. Mervyn machte Konversation mit seinen ernst dreinblickenden Tischnachbarn und trank zu viel.
Einige Tage später rief Wadim an und richtete ihm von Alexei aus, er wolle Mervyn und Wadim zu einem Abend im Bolschoi-Ballett einladen. Mervyn war überrascht und geschmeichelt. Sie hatten sich beim Abendessen zwar nicht unterhalten, doch Alexei war wahrscheinlich daran interessiert, einen Ausländer kennenzulernen, überlegte Mervyn. Er nahm die Einladung an.
Alexei war souverän und selbstsicher, ein wahres Mitglied der Moskauer Nomenklatura oder offiziellen Elite der Nachkriegszeit. Er trug ausländische Kleidung und war gereist; seine Frau, Inna Wadimowna, war groß und schlank und hatte, wie Mervyn auffiel, als er sie im Bolschoi-Theater kennenlernte, ein teures Goldarmband mit eingearbeiteter Uhr um. Alexei bemerkte stolz, seine Frau sei »eine typische sowjetische Frau«. Mervyn dachte an seine Putzfrau, Anna Pawlowna, und wie sie mit ihrem Einkaufsnetz voller Eier aus der Universitätskantine zur Bushaltestelle keuchte. Sie schien Mervyn eine typischere sowjetische Frau zu sein.
Der Abend war ein Erfolg. Alexei liebte das Ballett, und er und Mervyn unterhielten sich in der Pause freundschaftlich, während der kulturlosere Wadim am Büfett herumhing und den Mädchen nachsah. Alexei rief Mervyn von da an regelmäßig an und lud ihn zum Essen ein im Aragwi, im Baku, im Hotel Metropol, im Hotel National – den feinsten Restaurants, die Moskau zu bieten hatte. Alexei hatte Geld und eine rätselhafte Beziehung zu den Oberkellnern der Stadt, was bedeutete, dass er kurzfristig buchen konnte, stets mit einem unterwürfigen Lächeln begrüßt wurde und einen guten Tisch oder ein Separee zugewiesen bekam.
Alexei war im Gespräch dreister als Wadim, unverhohlener politisch und weniger kumpelhaft. Er sprach nie über Frauen und trank nur mäßig. Alexei bekundete Interesse an Mervyns Kindheit, an seinem Hintergrund, doch seinen trivialen Antworten entnahm Mervyn, dass er jenseits der marxistisch-leninistischen Plattitüden keine Vorstellung von Armut oder Klasse hatte. Eine Ironie: Alexei, der sowjetische Held der internationalen Arbeiterklasse, entstammte selbst einer privilegierten Elite, und Mervyn, ein naiver, aber ehrlicher britischer Patriot und zutiefst antikommunistisch, war nach marxistischen Begriffen ein geborener Revolutionär.
»Ein wunderbarer Zufall.« Wadim Popow, Mervyns erster KGB-»Freund«, isst 1959 auf dem Markt in Buchara, Usbekistan, einen Kebab.
Bei einem ihrer immer häufigeren Abendessen kamen Mervyn und Alexei auf das Thema der strengen Visavergabe, sprachen über Spione und Überwachung. Sie saßen im Hotel National, den größten Teil des Jahrhunderts eine bei den Reichen und Schönen der Hauptstadt höchst beliebte Bar. Alexei erklärte, dass die Sowjetunion sich gut vor ausländischen Spionen schützen müsse. Mervyn wollte vielleicht einfach beweisen, dass er keiner von »denen« war, und den impliziten Verdacht neutralisieren, und so erzählte er Alexei scherzend, in der Botschaft sei es eine ständige Quelle der Belustigung, dass unter der Großen Steinernen Brücke, ganz in der Nähe der Botschaft, eine Hütte stand, in der die KGB-Leute Domino spielten und darauf warteten, abberufen zu werden.
Alexei hörte interessiert zu. Er war plötzlich ernst und fragte nach, wo denn genau die Hütte sei. Nach dem Essen bestand er
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